Die Klamurke Notizen von unterwegs

Aus Tagebüchern, Notizbüchern

Zwischenfliege

Gruppenseele

Donnerstag, den 7. Juni 1990

Nach Lektüre des 3. Kapitels in Solschenizyn's "März 17", "Die Brotschlinge":

Bei Schingarjov Sichtbarwerden der Auswirkungen undurchschauter sublimer Gruppenabhängigkeiten auch bei stärkeren Persönlichkeiten.

Auf der Tagung in Loheland:

Gruppenseele war deutlich. Bei manchen Beiträgen war ein gewisses "Falsch" nicht zu überhören (gemeint das russische - wenn auch ursprünglich aus dem deutschen übernommene - "фальш").

In einem Vortrag von Frau Mitzenheim - einer ansonsten sympathischen intelligenten Frau - wurde Albert Steffen auf eine Stufe mit Solschenizyn gestellt. Ja nu; kann man ja sagen; ich kenn Steffen zu wenig. Als aber dann zum Abschluß größere Passagen aus den zur Debatte stehenden "Oasen der Menschlichkeit" vorgelesen wurden, da war mir klar, woher der Wind weht. Was Steffen da schrieb war alles sehr gescheit, sehr fortschrittlich; es gab nichts dagegen zu sagen; und glücklich könnten wir uns schätzen, wenn ähnliches heutzutage öfter ausgesprochen würde. - Nur: Gesagt wurde es in einem gestelzten, belehrenden Predigerton, von oben herab. Keine zu freier Entwicklung anregende LITERATUR im eigentlichen Sinn, sondern als Erzählung maskierter moralisierend erhobener Zeigefinger.

Doch niemand fand was dabei.

Zum Schluß fragte ich Klaus: Ob man da nicht etwas weit gehe: Steffen auf eine Stufe mit Solschenizyn zu stellen? - Klaus wich aus. Gab aber zu, daß meine Charakterisierung plausibel ist.

Steffen für sich wäre nix besonderes. Ein Schriftsteller halt, der teils gutes, teils weniger gutes, teils fragwürdiges von sich gegeben hat; nicht uninteressant; unter Umständen lohnt es sich gar, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Was irritiert ist diese blinde Steffen-Verehrung: Weil es sich aus irgendwelchen Gründen halt so ergeben hat, daß er in diesen Kreisen als eine Art Heiliger eingeführt wurde.

Und Kreise sind's. Geschlossene Kreise. Sie müssen sich auflösen.

Zwischenfliege

Im Schicksalsstrome

Samstag, den 7. Juli 1990 *8.38*
Stuttgart

Eine Episode aus meiner Münchener Zeit fällt mir ein: Einen Brief hatte ich in der Tasche an eine Frau, die ich für eine Stripdarbietung an Herberts[1] Vernissage anheuern wollte. War auf dem Weg zu Herberts Atelier. Unterwegs kaufte ich mir bei "Kunst und Spiel" den zweiten Karmaband[2]. Und so denn: Den Karmaband in der Hand, den Brief an die Stripperin in der Tasche, ging ich runter in die U-Bahnstation Giselastraße. Und ich dachte an diese absurde Kombination; und da fiel mir auf: Daß ich Stiefel anhabe. Irgendwie so: Ich bin drin im Schicksalsstrome. Und dazu gehört auch der Umgang mit Dingen, die für einen moralisierenden Standpunkt (von dem ich mich noch immer nicht ganz befreit habe) fragwürdig scheinen könnten.

Alles in allem: Der Mensch im Hin und Her zwischen den hemmenden Einflüssen unserer Zeit; mal ihnen zum Opfer fallend, mal sie benutzend zum Vorwärtsschreiten. Und was ihm letzten Endes die Richtung gibt ist weder eine abstrakte Moral noch das "Lustprinzip", sondern der eigene sich befreiende Blick für Würde und Freiheit.

Im "Untergang der Salanen"[3] kann tatsächlich was Weiterführendes liegen. Ich hab das Zeug vor zwei Jahren angefangen; vor kurzem - in Dortmund, kurz vor meiner Abreise nach Stuttgart - hab ich's wieder aufgegriffen und tatsächlich einiges Neues hinzugebracht. Noch weit entfernt davon, gut & brauchbar zu sein; aber: eine Skizze, die langsam Gestalt annimmt und aus der irgendwann vielleicht gar noch was werden kann.

Zwischenfliege

Akzeptieren von Eigenständigkeit und Pioniergeist

Dienstag, den 1.Januar 1991
Dortmund

In Zusammenhang mit meiner Russlandreise kurze Anmerkung über meine Beziehung zum Diakonischen Werk:

Ideologische Unterordnung wurde nicht einmal andeutungsweise verlangt.

Ich hatte ein Programm. Einige Punkte in diesem Programm schienen mir überflüssige Formalitäten und reine Zeitverschwendung. Ea de causa ließ ich sie links liegen und arbeitete in eigener Regie. Was ich erreichte sprengte den Rahmen des Vorgesehenen, entsprach aber voll dem "Geist" meines Auftrags.

Das Diakonische Werk ist eine kirchliche Organisation. Ich hasse Kirchen. Weil sie ihrer Natur nach die sich zu ihnen bekennenden ideologisieren und geistig unfrei machen.

Wenn aber nun in einer Organisation, die zufällig eine kirchliche ist, Pioniergeist und Eigenständigkeit begrüßt werden? Hä?

Zum Teufel mit den Etiketten.

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Übertriebene Löschtätigkeit

Mittwoch, den 23.Januar 1991
Stuttgart

Heute denn den ganzen Tag bei S. am Computer. An dem eigenen. Bevor ich irgendwas anderes in Angriff genommen hätte löschte ich die Datei "Sich für die Gemeinschaft opfern". Vorsatz, auch andere Dateien zu löschen. Wollte ein neues & ernstes Leben anfangen, ohne unnützes Herumschreiben. Und vor allem ohne erotisch angehauchtes Zeugs. Nun gut. Gen 6 war ich dann im Hotel. Legte mich aufs Bett, ruhte aus. Dabei fiel mir ein, daß ich vorhin in einem Anfall von Löschwut bei S. vermutlich zwei Sachen gelöscht habe, die ich gestern und vorgestern übersetzt hab und noch nicht ausdrucken konnte. Und ich sagte mir: Daß ich in einem solch benebelten Zustand eigentlich keinen Zugriff zu Löschinstrumenten haben dürfte...

Etwas ausgeruht habend schaltete ich das Fernsehen ein in der Hoffnung auf Golf-Nachrichten. War aber nix; zu sehr schon hat man sich, scheint's, an den Golf-Krieg gewöhnt.

Dafür geriet ich in eine Sendung über den Fotografen Klimt, die mich spontan interessierte und bei der ich dann blieb. Drei Jahre war er beim Spiegel; bis er wegen zu großer Eigenständigkeit rausflog; ansonsten freier Fotograf. Interessanter Mensch; werd mich wohl noch um ihn kümmern. Interessantes Detail: Daß er seiner Arbeit nur dank der Unterstützung durch ein Hamburger erotisches Theater nachgehen kann.

Die beiden Episoden: Das mit der danebengegangenen Löschorgie und das zuletzt erwähnte - machten mich stutzig. Fast wie 'n Wink. Von wo? Weiß der Teufel. Man muß richtig damit umgehen. Das isses.

Zwischenfliege

Journalismustyrannei

Sonntag, den 13.Januar 1991
Stuttgart

Heute mit T. rübergefahren.

Unterwegs Rede von Späth angehört, der die Konsequenzen aus der Hetze gezogen hat. Hatte mich auch schon vorher mit T. über die erschreckende Degeneration des Journalismus, der Medien unterhalten. T. erwähnte ein Zitat von Geissler, der einen gewissen Journalismus mit Todesschwadronen verglichen hat. Ich halte nichts von Heiner Geissler; aber in diesem Punkt hat er sicher recht. Und vielleicht gar halte ich eben aus dem Grunde nix von ihm, weil ich einem gewissen Journalismus aufgesessen bin.

Denn was weiß ich von Geissler? Nichts weiß ich.

[Das Foto mit Zitat wurde viele Jahre später nachträglich eingefügt.]

Zwischenfliege

Disziplinierender Ungeist

Samstag, den 7. Juli 1990 *8.38*
Stuttgart, Hotel Löwen

Entdeckt und klamurkisiert Mitte September 2022 beim Herumsuchen in alten Aufzeichnungen in Bar (Montenegro)
Zu jenen fernen Zeiten verdiente ich meinen Lebensunterhalt hauptsächlich als Dolmetscher und Übersetzer.

♦♦♦

Die Arbeit, die ich zur Zeit mache, hat was Anödendes. Aber sie hat auch einige Vorteile. Unter anderem, natürlich: daß wieder Geld reinkommt. Aber dann auch eine innere Disziplinierung. Besonders bei dem Tabellentippen ist das deutlich: Um die Arbeit zu vereinfachen und zu beschleunigen bau ich alle möglichen Makros ein (ohne das wäre es völlig ausgeschlossen, die Arbeit in der kurzen Zeit hinzukriegen). Das heißt, ich muß mir alle möglichen willkürlichen Tastenbelegungen merken (anders denn willkürlich ist nicht möglich, da es irgendein "Wesen", aus dem heraus sich die Belegung ergeben könnte, nicht gibt). Und um "drin" zu bleiben, muß ich über möglichst lange Zeit ohne Pause durcharbeiten; nach Möglichkeit so lange, bis ich den Komplex, in dem die jeweiligen Makros Gültigkeit haben, durch habe. Und beim nächsten kommen wieder ganz andere Belegungen. Natürlich das genaue Gegenteil eines "leibfreien" Denkens; eine vorübergehende freiwillige Gefangenschaft in willkürlich zusammengebrachtem Vorstellungsmäßigem; aber trotzdem: als Disziplinierungsmaßnahme nicht zu verachten (wie ich, trotz aller Aushöhlung, merke).

So fallen mir manche Dinge auf, die man von einem etwas höheren Gesichtspunkt aus unschwer als "hemmend" ausmachen kann, denen man aber von einem noch höheren Gesichtspunkt aus - sofern sie in der richtigen Dosierung und im richtigen Moment zur Anwendung kommen - eine therapeutische Wirkung, die dem Vorwärtsschreiten zugutekommt, nicht absprechen kann.

[…]

Alles in allem: Der Mensch im Hin und Her zwischen den hemmenden Einflüssen unserer Zeit; mal ihnen zum Opfer fallend, mal sie benutzend zum Vorwärtsschreiten. Und was ihm letzten Endes die Richtung gibt ist weder eine abstrakte Moral noch das "Lustprinzip", sondern der eigene sich befreiende Blick für Würde und Freiheit.

Zwischenfliege

Anastasia, Tochter des Zaren

In irgendwelchen Angelegenheiten weilte ich bei Freunden zu Besuch. Dort fiel mir ein Buch in die Hände über Anastasia, die Tochter des letzten russischen Zaren (die Geschichte von Nikolai II hab ich in allgemeinen Umrissen studiert. Ein hochanständiger Kerl, treusorgender Ehegatte und Familienvater, der nur das Pech hatte, in eine Situation hineingeboren zu werden, welcher er partout nicht gewachsen war. In seiner Naivität wurde er zum hilflosen Spielball von Hofintrigen, Karriereleuten, Verrückten, und führte, ohne irgendwas zu verstehen, Russland in den Abgrund. Als die Bolschewiken die Macht ergriffen hatten, wurde er gefangengesetzt und schließlich, zusammen mit seiner Familie und einigen Leuten aus seiner Umgebung, ermordet. Es heißt, seine Tochter Anastasia habe jenes Gemetzel überlebt)

Montag, 17. Juni 2019

Viele Seiten habe ich gelesen (Peter Kurth: Anastasia, die letzte Zarentochter), und trinke nun Kaffee. Das Anastasia-Buch ist interessant; der Peter Kurth hat sehr eifrig recherchiert und versteht was. Für jene Anastasia hab ich mich bislang wenig interessiert. Die Magie des Geburtsadels ist für mich ein nicht ernstgenommenes Buch mit sieben Siegeln, zu dessen Entsiegeln mir das Interesse fehlt. Erinnere mich an eine Serie in der von Mutter und Großmutter eifrig gelesenen Regenbogenpresse: „Ich, Anastasia, Tochter des Zaren“. Ob ich da reingelesen habe, weiß ich nicht mehr; weiß nur, daß es mich im Weiteren daran hinderte, das Problem überhaupt ernst zu nehmen (genauso wie der katholische Christus mich vom Christusverständnis abhielt und mir eine langjährige Allergie gegen jenes Wort einimpfte). Und jetzt interessiert mich der Fall Anastasia nicht als dynastisches Problem, sondern rein als konkretes menschliches Schicksal. Und übelkeitserregend interessant das Intrigenspiel um sie herum.

Zwischenfliege


1)Aus Wien stammender professioneller Fotograf, der damals in München tätig war. Unter anderem war er auf Erotik spezialisiert; und eines seiner diesbezüglichen Modelle hatte ich ihm vermittelt. An den Vorbereitungen zu jener Vernissage war ich, mehr am Rande, beteiligt. An die Vernissage selbst kann ich mich nicht erinnern; möglich, daß ich da grad auf irgendeiner Dolmetschunternehmung war. – Nach meiner München-Phase hatte ich keinen Kontakt mehr mit ihm; begnüg mich mit Nennung seines Vornamens.

2)Von Rudolf Steiner ist das. Solche Sachen lese ich. Um nicht in irgendeiner Schublade zu landen sei angemerkt: ich bin kein Anthroposoph und sogar durch und durch ungeistig

3)Der "Untergang der Salanen" wurde, nach gelegentlichen Ausarbeitungsphasen, dann sogar in der "Klamurke" veröffentlicht. Ich glaub, man kann da noch was draus machen. Kommt vielleicht noch…

Raymond Zoller