Die Klamurke Notizen von unterwegs

Aus Tagebüchern, Notizbüchern

Zwischenfliege

Von der Rechtlosigkeit der Masochistinnen

Moskau, irgendwann zweite Hälfte neunziger Jahre

Vor einigen Jahren schickte eine deutsche Zeitschrift – Info3 – sich an, einen belletristischen Text von mir zu veröffentlichen: „Die Nashornfrage." Aus der Redaktion kam ein Anruf: In dem Text gehe die Rede von einer Königin, die aus Masochismus den Befehl gab, sie in die Sklaverei zu verkaufen. Man sei zu dem Schluß gekommen, daß man das so nicht bringen kann, und ich soll es bitte raustun. Nun gut; ich operierte das dann heraus; was zum Glück nicht schwierig war, da besagte Königin nur ganz am Rande auftauchte (der Text gehörte ursprünglich zu einem umfassenden Zyklus, in dem sie eine wichtigere Rolle spielt). Dabei stieß mir eine merkwürdige Ungerechtigkeit auf; was in einer nach besagter Operation zustandegekommenen Notiz seinen Niederschlag fand:

Während ich damit beschäftigt war, aus der „Nashornfrage" die Masochismus-Episode zu eliminieren, fiel mir plötzlich ein, daß die Masochistinnen sich gegenüber den Schwulen doch aber benachteiligt fühlen müssen. Denn die Schwulen dürfen sich in Info3 ungestört äußern, und die Masochistinnen dürfen nicht einmal erwähnt werden. Ist das gerecht? Hä? Natürlich nicht. Und da die Schwulen, ihren eigenen Aussagen zufolge, eine unterdrückte Minderheit sind, sind die Masochistinnen somit erst recht unterdrückt. – Man mag dem entgegenhalten, daß solches doch ganz im Sinne der Masochistinnen ist, da sie als Masochistinnen in der Unterdrückung sich doch ganz wohl fühlen. - Natürlich fühlen die sich wohl in der Unterdrückung; daran zweifelt niemand; denn sonst wären sie ja keine Masochistinnen. Aber trotzdem: Schön iss sowat nich! Wo kämen wir hin, wenn jeder jeden unterdrücken würde? Hä? Und da es den Masochistinnen fernliegt, selbst für ihre Rechte einzutreten, schlage ich vor, einen Schutzbund zu gründen zur Befreiung der Masochistinnen; ganz egal, ob die damit einverstanden sind oder nicht.
Damit solches nicht wieder vorkommt!

Zwischenfliege

... in Pfützen ertrinken ...

Dienstag, den 28.Juli 1992 * Moskau

Ein Problem ist mir heute mittag recht elementar durch den Sinn gezogen; ein Problem, das man mit dem russischen Sprichwort zusammenfassen könnte: „Nicht im Meer ertrinkt man, sondern in der Pfütze“. Folge des Telefonates mit X, dem Trickfilmer. Werbefilme könnte er machen. Eben da hab ich was dagegen. Werbung - selbst wenn sie Niveau hat - ist eines vom dümmsten, das es gibt. Für Werbung würde ich mich nicht hergeben. Für Information schon; doch dazu braucht man keinen Trickfilmer.

Und das Gespräch mit L. fiel mir ein, der irgendeine berühmte deutsche Heulboje engagieren wollte für einen Film. Sowas aufwerten ist sicher das falscheste, was man machen kann.

Als ich vorletztes Wochenende N. besuchte war grad ein potentieller Sponsor da, der an allem interessiert ist, was Geld bringt. Er sprach sehr viel von Wodka. - Auch an sowas würde ich mich nicht beteiligen.

Alles, was mit Diebstahl, Schwindel, Lüge zu tun hat - ist auch nicht mein Weg. Zu kleinkariert. Auch wenn's im Großen getrieben wird. (Werbefilme sind, nebenbei g'sagt, auch Lüge)

An Erotik-Projekten würde ich mich unter Umständen beteiligen. Unter Umständen. Es dürfte sich nicht auf RTL-Niveau abspielen, nicht mit dem Madonna-Unfug vergleichbar sein. Es müßte Geist dahinterstecken. Wie ich mich irgendwo mal geäußert habe: Sünde ist nur dann interessant, wenn der Geist, von dem sie sich abhebt, wenigstens noch ein wenig spürbar ist. Oder, mit den Worten einer meiner Heldinnen: "Exzesse brauchen Geist...Und der Geist braucht Exzesse, da sie die Gewohnheit, die vom Geist abschirmt, durchbrechen. Wo aber die Exzesse zur Gewohnheit werden, da entsteht ein ganz neues Prinzip: auswegsloser Morast."

Ich würde mich am Aufbau eines Nachtclubs beteiligen. Sogar an einem Bordell oder einem Callgirl-Ring. Wenn es spritzig ist, wenn es Geist hat, wenn es nicht zur Gewohnheit wird; wenn die beteiligten Frauen wissen, was sie tun und genausogut auch anders könnten. Und auch anders tun. Ein Wandern am Abgrund mit Tendenz Richtung Freiheit. Wo gelegentliche Exzesse und Gratwanderungen nur Wegstücke sind, Sprengen von Ketten. Aber nicht sprengen von Ketten, um anschließend im Morast zur Gewohnheit erstarrter Exzesse zu versinken, sondern um weiterzugehen. Weiter. Zur Freiheit, zur freien Gemeinschaft freier Geister.

Gleich weit weg von Helmut Kohl oder Goetheanum auf der einen Seite und RTL oder Madonna auf der andern. Denn die wissen nicht, worum es geht. Spießer sind im Grunde beide.

Zwischenfliege

Schicksalsvernebelung

Dienstag, den 13. November 1990 * Dortmund

Unten im Treppenhaus hängt ein Plakat: "Dem Schicksal begegnen." Irgendeine Veranstaltung der Anthroposophischen Gesellschaft. Ich tippte auch ein Plakat und hängte es daneben:

Die Bombastizität der Themenstellung
in ihrem Verhältnisse
zum Ernste der Themenbehandlung
("Dem Inhalt begegnen")

Ein Vortrag von Wilhelm von Dorten.

Und noch einen Vortrag kündigte ich an, darin L. Morphel sich ausläßt über den hinter der Phrase verborgenen Inhalt sowie über Techniken zu dessen Erschließung. Und in Klammern: Über den zeitgemäßen Umgang mit der Sprache.

Vielleicht hat ich darüber gar diesen oder jenen auf wat aufmerksam gemacht. (hab selbst lange gebraucht, bis ich das kapierte; hab mich immer darüber gewundert: Warum ich mich mit solchen Bombastizitäten nicht verbinden kann. Heute weiß ich: Weil da nix dahinter ist, mit dem man sich verbinden könnte.)

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Sinn als Konsumgut

Donnerstag, den 4.Juli 1991 * Dortmund

Beim Lesen in der Broschüre, die X für mich dagelassen hat:

Theoretische Überlegungen über Gewordenes. Sehr mühsam und schmerzhaft, sowas zu lesen...

Positive Ansätze, ins Werden zu kommen, wie sie seit gut zwei Jahrhunderten im deutschen Sprachraum existieren - es ist, als sei sowas nie geschrieben worden. Schillers Aesthetische Briefe. Das ganze Goethe-Zeugs. Nietzsche. [...] Es ist, als hätte es solches nie gegeben. Die einen lesen es gar nicht erst; andere lesen es; aber so, daß sie sich darüber lediglich ein gewisses Repertoire an Worten aneignen...

Iss ja letzten Endes egal... Mit deiner Sehnsucht nach Werden biste so oder so alleine. Weder die einen noch die andern wissen wat davon; nur halt, daß die einen ein Wörterreservoir haben, das zunächst den Eindruck erweckt, als wissen sie wat...

Was soll man da machen? Nix kann man machen. Man ist zur Einsamkeit verdammt.

S.27: "In ethnologischer Perspektive stellt sich der 'Sinn des Lebens' nämlich dar als die Aufrechterhaltung der Existenz im Rahmen der Ethnischen Identität. Entfremdung von Kultur ist daher gleichbedeutend mit Sinnverlust und zieht im Individuum entsprechende Reaktionen nach sich, unter anderem das Bedürfnis nach Ersatz durch neue kulturelle Muster, d.h. auch neue Sinnsysteme."

Konsumentenhaltung perfekt. Hupfen von einem Konsumgut zum andern. Für diese Sichtweise beginnt der Sinn dort, wo er für den im eigentlichen Sinne strebenden Menschen aufhört.

Sicher gilt diese Sicht für die Spießerkultur; das fatale ist nur, daß die Spießerkultur als das Absolute genommen wird.

Zwischenfliege

Disziplinierte Disziplindosierung

Freitag, 2. Januar 2004 * Tbilissi

[...] Und zum Erwachen braucht es Disziplin; und gleichzeitig Disziplin zum Kontrollieren der Disziplin; also Disziplin zweiter Ordnung. Denn in dieser festgefahrenen Situation führt unkontrollierte Disziplin unter Umständen schon nach ein paar Schritten in die vollständige Erstarrung. Man muß sich jeweils zwingen, eben die Bewegungen auszuführen, zu denen man gerade in der Lage ist, und sich zu keinen Bewegungen zu zwingen, zu denen man im Moment nicht in der Lage ist. Und darüber so nach und nach Gespür für das richtige zu entwickeln.

1.Februar 1991

Zu Zeiten, da man völlig am Absacken ist - da ist es kriminell, auch nur für einen Moment mit Kämpfen auszusetzen. Selbst das Ausruhen muß klar und bewußt vonstatten gehen. In nichts darf man sich hineintreiben lassen; jeder Schritt muß mit der größtmöglichen Bewußtheit ausgeführt werden. Hüten muß man sich davor, sich einfach so der Bequemlichkeit halber Automatismen zu überlassen. - Natürlich - dauernd überläßt man sich Automatismen; wir sind keine oder noch keine Götter; nur: Man muß sich dann klar sein: Ich bin im Moment nicht in der Lage, diesen Moment mit Bewußtheit zu durchdringen; mir fehlen die Kräfte; also: laß ich jetzt treiben. Aber ich bin wach im Hintergrund dabei; jeden Augenblick gewärtig, die Zügel wieder anzuziehen.

9.April 1991

Manchmal braucht’s, scheint's, mehr eine disziplinierte Passivität. Irgendwelche Prozesse, Veränderungen laufen in der Tiefe ab; man merkt, daß was los ist, kann aber nicht eingreifen; manchmal ist in solchen Fällen, scheint's, sogar das beste: diszipliniertes Nichteingreifen. Manchmal sogar: Bewußtes Herumdösen...

Zwischenfliege

Selbstverständliche Hilfsbereitschaft

Mittwoch, 18. September 2002 * Tbilissi

Zwei Fiebertage hinter mir. Wieder auf den Beinen. Lästig das Schleppenlassen von X. Weiß nicht, was tun. Gestern schickte ich eine Bestandsaufnahme unter Hervorhebung von Punkten, die sofortiges Handeln nahelegen. Bislang keine Antwort.

Geistesgegenwart nur punktweise; zu mehr reicht die Kraft nicht. Inga wundert sich, woher ich überhaupt in dieser festgefahrenen Situation noch Kraft finde. Ja nu. Die Situation ist bei weitem nicht so festgefahren, wie sie bereits war; und ansonsten ist das mit dem Kräftezustrom eine rätselhafte Angelegenheit; und selbst über das wenige, was ich verstehe, kann ich nicht mit ihr reden. Sicher ist aber mal, daß ohne eine Beschäftigung, die ich vereinfachend mit dem Wort „Geisteswissenschaft“ andeuten möchte, dieser Kraftquell nicht oder kaum strömen würde.

Dann wundert sie sich, woher ich in dieser für mich schwierigen Situation immer noch die Kraft finde, mich um andere zu kümmern. Bewundert sie sogar irgendwie. Hängt mit obigem zusammen. Würde ich dauernd nur darauf schauen, wie schlecht es mir selbst geht, würde ich mich halt in mich selbst abschotten. Streng genommen, denk ich fast überhaupt nicht daran, wie ich mich selbst aus der Patsche herausmanövrieren könnte (hab auch keine Ahnung, wo ich bei der ganzen Passivität und Unverbindlichkeit ringsum Ansätze finden könnte). Kümmere mich um das Problem, wie man Guram aus seiner mißlichen Lage heraushelfen könnte. Versuch nun, Valja irgendwie via [...] ein leichtes Einkommen zu verschaffen. Und all dies keineswegs als Beschäftigungstherapie oder um mein eigenes Elend zu vergessen, sonder aus dem ganz lapidaren Grunde, weil ich nicht will, daß Guram versauert, daß Valja mitsamt Guram verhungert; usw...

Zwischenfliege

Exaltierte Naivität

Freitag, den 19.Juli 96 * 8.18 * Moskau

Doch merkwürdig die exaltierte Naivität, die mich immer dort befällt, wo ich nix verstehe. Wo ich verstehe, bin ich humorvoll-sachlich. Wie es sich gehört... Wo ich nix verstehe, bin ich entweder exaltiert positiv oder verbissen negativ. Immerhin gut, daß ich das weiß; eine andere Frage ist, wie man solches abbaut... Ja nu; natürlich: Indem man einerseits das Feld des Verstehens ausweitet und andererseits dort, wo man nix versteht, sich nach Möglichkeit zurückhält. Doch ist besonders letzteres nicht immer so einfach; die Welt fordert Handeln, Entschlüsse; und da kommt man denn schon mal leicht ins Rotieren. Hätte ich jene Sache damals nicht so energisch angepackt, so wäre ich in den mitteleuropäischen Wüsten oder sonstwo versauert... Und vielleicht hätte sich bei fairem Verhalten von X tatsächlich in der eingeschlagenen Richtung noch was machen lassen? Ich wäre zunehmend in von Verstehen geleitetes Handeln gekommen; und die exaltierte Naivität wäre ganz von selbst, als unnötiger Plunder, abgefallen.

***

Nachbemerkung Juli 2012

Inzwischen hab ich das praktisch im Griff; aber es hat sehr lange gebraucht. Immerhin durfte ich auf solchen Wegen die Wurzeln solcher Exaltiertheit etwas studieren; was ja auch nicht schlecht ist….

So isses

♦♦♦

Obige Notiz findet man in dem Sammelband
"Einblicke in Abwege"
(Seminar-Verlag Basel)

Einblicke in Abwege

Zwischenfliege

In Russland notiertes

Prostitution als Erfahrungsweg

Samstag, den 28.August 1993 *13.36* Moskau

Nach Gespräch mit X.: Er erwähnte einen Artikel in der Jugendnummer einer russischen Zeitschrift über Prostitution, darin selbige als ein völlig normaler und sogar empfehlenswerter Beruf dargestellt wird. Hab meine Bedenken dagegen, die Dinge so darzustellen. X - möglicherweise gar unter dem Einfluß meiner eigenen literarischen Produkte - fand, daß Prostitution eine Erfahrung ist wie jede andere auch; daß diese Frauen halt mit ihrem Körper Geld verdienen. - Im Prinzip hat er recht; ich sagte das auch. Die Prostitution fügt sich nahtlos in die westliche kapitalistische Weltsicht; nur wird das Ganze dort drüben(1) noch durch eine verfälschende Moralinbrille betrachtet; die Nähte werden hineingelogen. Erst in der erfrischend-naiven russischen Sichtweise kommt diese westliche Weltsicht so zutage, wie sie ist. - Bezüglich Prostitution als "Erfahrungsweg" (zur Sprache kam auch noch Alkohol, Rauschgift): Im Prinzip gab ich ihm recht; nur finde ich, daß Erfahrungsmaterial, das den Erfahrenden in seinen Bann schlägt und ihm nicht die Möglichkeit läßt, die Erfahrung als Entwicklungsmöglichkeit zu nutzen und darüber hinauszukommen, an sich fragwürdig ist.

Solche Erfahrungsbereiche sind wie Medikamente: Es kommt auf den Menschen und seine konkrete Situation an. Was den einen weiterbringt, ist für den anderen tödliches Gift

Von relativen Endpunkten

14. Februar 91

- Gestern im Gespräch mit J. formulierte ich folgendes:

Mag sein, daß Gorbatchov wirklich an einem Endpunkt seines Horizonts angelangt ist; daß er gar nicht die Absicht hat, auch auf längere Sicht hin die nichtrussischen Republiken zu entlassen. Doch hat es keinen Sinn, sich in der Tatsache dieses Endpunktes zu verheddern. Wichtig ist, daß ein gewisses Maß an Befreiung erreicht wurde und noch immer da ist; und wichtig ist, daß man im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Beitrag leistet, daß dieser Freiraum genutzt wird. Daß der Freiraum bislang kaum genutzt wurde liegt zu einem sicher nicht unerheblichen Teil an der Degeneration des Westens, die eine effektive Hilfestellung unmöglich machte.

Zwischenfliege

Physische Unsterblichkeit

13.April 1991

... Unterwegs Israeli, der merkwürdige Theorien zum Besten gab; darunter aber einige interessante Gesichtspunkte (wennauch er zwischendurch zugab, daß das alles nicht von ihm ist). Das Interessante Folgendes: Die Juden seien als Volk eigentlich mehr mit dem Blut zu vergleichen; ihre Art sei es, herumzuziehen; es sei nichts für sie, ein eigenes Land zu haben; und von daher sei es natürlich, daß dauernd nur Probleme auftauchen; und er hoffe, daß eines Tages Israel aufhöre zu existieren. - Ansonsten: Anhänger einer Art Sekte, die physische Unsterblichkeit zum Ziel hat. Das merkwürdige an dieser Sache ist, daß sie durch und durch atheistisch, materialistisch eingestellt ist, d.h. alles geistige ableugnet und nur die Materie als wirklich betrachtet, und gleichzeitig ihrer Ideologie nach davon ausgeht, daß man über das Bewußtsein auf eben diese Materie einwirken muß, um die physische Unsterblichkeit zu erlangen. Meine Frage, wie das Bewußtsein, das laut seiner Ideologie ja nur ein Epiphänomen der materiellen Prozesse ist, nun plötzlich Gewalt über die Materie gewinnen soll; woher er überhaupt das Recht nimmt, zu verlangen, daß "man" - da "man" doch bloß eine Begleiterscheinung materieller Prozesse ist und an sich gar nicht existiert - so und so denken "muß" oder "soll", um den Verlauf der materiellen Prozesse zugunsten einer physischen Unsterblichkeit zu verändern - verstand er nicht. Das sei Philosophie, sagte er; und Philosophie ist für ihn was schlechtes; denn er habe, sagte er, in seinem Leben viele philosophische Bücher gelesen und nirgends etwas gefunden, was für sein Leben etwas bringen würde. - Doch gab er zum Schluß der Hoffnung Ausdruck, daß er durch seine Ausführungen einen Keim in unsere Seelen gelegt hat, der irgendwann aufgehen könnte. - Meine Entgegnung, daß, abgesehen von dem Widerspruch, den ich sehe, ich eh keine Lust habe, nur um des Lebens willen ewig zu leben, wollte er nicht gelten lassen.

Zwischenfliege

Wirrnisschaffende Autoritäten

Donnerstag, den 16.Juni 1994 *10.19*

Bei "geistigen Autoritäten" hat man häufig den Fall, daß fehlende Einsicht durch Machtstreben in seinen verschiedensten Erscheinungsformen ersetzt wird (Politik, Agitation...)

Bei Menschen mit starkem "faustischem Drang" führt die Konfrontation mit solchen künstlich aufgebauten Autoritäten, solange die Künstlichkeit nicht voll durchschaut wird, zu Resignation, Verwirrung oder Rebellion. Was damit zu tun hat, daß diese Künstlichkeit unterschwellig als ein Angriff gegen das vorsichtig tastende eigene Suchen empfunden wird (was es objektiv auch ist). In dem Maße, wie die Künstlichkeit durchschaut wird, fallen die Probleme - zumindest was die eng persönliche Entwicklung betrifft - weg; die Äußerungen solcher Autoritäten, die man vorher mit dem eigenen Suchen in Verbindung sah, werden in ihrer floskelhaften Eigenart erkannt; man versteht, daß die mit den gleichen Worten, du auch du benutzen würdest, etwas ganz anderes oder auch gar nichts meinen; man sieht sie als verirrte Opfer ihrer eigenen Blindheit; Opfer allerdings, die zu einer sozialen Gefahr werden, da sie andere in ihre Verwirrung mit hineinreißen oder durch machtpolitische Winkelzüge nicht nur die geistige Entwicklung einzelner erschweren, sondern auch äußerlich soziale Strukturen und Einrichtungen schaffen, in denen eine menschenwürdige Entwicklung unterdrückt wird.

[...]

Zwischenfliege

Bewusst auf verlorenem Posten

Samstag, den 12.Oktober 96 * 5.24

Auch auf verlorenem Posten stehen kann mit den verschiedensten «sozialkünstlerischen» Aufgaben verbunden sein; es ist rein die Frage, mit welchem Grad an Bewußtheit man besagten Posten einnimmt. - Das bedeutet ja keineswegs, daß solch verlorener Posten einem von vornherein schicksalsmäßig vorbestimmt war; vielleicht wäre das Potential und die Anlage vorhanden, in weiterem sozialem Umfeld wirksam zu sein; doch da ringsum alles abgestorben ist und weiter abstirbt kommen die Anlagen, da sie kein Echo, keine Verkörperungsmöglichkeit im sozialen Umfeld finden, nicht recht zur Entwicklung, gar führen die verzweifelten Verkörperungsversuche in der unnachgiebigen Masse zu den verschiedensten Skurrilitäten, Schrulligkeiten; und wie man dann in diesem Chaos langsam, im Laufe der Jahre zur Besinnung kommt, erkennt man den «rationalen Kern» all dieser diffusen Versuche; und wird sich bewußt: als stehend auf verlorenem Posten. Und nun gilt es eben, mit wachsender Bewußtheit die Anlagen und Möglichkeiten gezielt in diese erkannt werdende Situation «hineinzumetamorphosieren».

Zwischenfliege

Geist und Dressur

Mittwoch, den 22.Mai 1991 *11.00*

Allmählich gerate ich in den Geruch eines Computerfachmanns. Komisch. Hab keine Ahnung, wie so'n Ding funktioniert. "ich finde nicht die Spur von einem Geist; und alles ist Dressur... " Ich kenne einige Systeme, die man kaufen kann; und so ungefähr weiß ich, was man damit, so man die richtigen Knöpfe drückt, auf den Bildschirm und aufs Papier zaubern kann; und wenn auf dem Schirm oder auf'm Papier etwas anderes erscheint als vorgesehen, so weiß ich nicht, woher das kommt (genausowenig wie ich weiß, woher das kommt, daß das Vorgesehene erscheint); und ich weiß auch nicht, welche Knöpfe man drucken muß, auf daß es besser werde. Höchstens herumprobieren kann ich. Evidenz? Zum Teufel damit. Wir leben im Zeitalter des Ausgeliefertseins, des totalen.

Zwischenfliege

Etiketterei

(irgendwann Mitte der neunziger Jahre)

Die Sorge, für die Umgebung als «intelligent» oder als «Intellektueller» zu gelten, gehört nicht zum Bestand der Probleme, mit denen ich mich herumzuschlagen habe; und nicht einmal ist es mir ein besonderes Anliegen, von Leuten, die sich in den Fängen irgendwelcher «Normen» verheddert haben, nicht als schrullig oder verrückt betrachtet zu werden. Mein Problem ist, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln mich zurechtzufinden; und wo man aus diesem Bemühen heraus mit anderen zusammen ist, ist man zu sehr durch das Sichvorwärtskämpfen in Anspruch genommen, als daß man Zeit und Interesse übrig hätte für gegenseitige Etikettierungen; während andererseits das Einsetzen solcher Etikettierungen ein sicheres Zeichen dafür ist, daß das produktive Bemühen nachgelassen hat. - Was nun diejenigen Mitmenschen betrifft, die, auf Grundlage vorgegebener Beurteilungsmaßstäbe, nur verschiedene Ausschnitte der alleräußerlichsten Oberfläche meines Orientierungsbemühens zur Kenntnis nehmen, so interessiert es mich herzlichst wenig, mit welchen Etiketten sie solche Oberflächenstücke bekleben; genauso wie es ja im Prinzip keinerlei Unterschied ausmacht, ob einer 2 x 2 gleich 7, gleich 18 oder gleich 126 sein läßt....

Und im Übrigen: «Unter solchen gelüstet es mich, der niedrigste zu sein!»

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Obige Notiz findet man in dem Sammelband
"Einblicke in Abwege"
(Seminar-Verlag Basel)

Einblicke in Abwege

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Schubladerei

Sonntag, den 4.August 1991 *9.16*

Hervorstechendste Eigenart des heutigen Menschen: Sich sofort in die Sklaverei des einmal Realisierten zu begeben.

Wie steht man mir gegenüber?

Einst war ich reiner Vagabund, ohne Diplome, ohne nix; nur mit starkem Drang nach Werden.

Dann ergab es sich, daß ich durch einen Menschen, der für solchen Drang nach Werden eher ein Gespür hat - A. - als Dolmetscher und Übersetzer "ins Geschäft" gebracht wurde; und im Weiteren ergab es sich dann, daß ich durch solche Tätigkeit meinen Lebensunterhalt so einigermaßen bestreiten konnte; zeitweise nicht einmal bloß "nur einigermaßen", sondern so, daß ich finanziell besser stand als meine Umgebung. So lag es denn nahe, in mir den "Dolmetscher" zu realisieren. Und der bin ich jetzt. Höchstens noch, daß ich Kurse geben könnte für Dolmetscherei oder so, da es sich gar herumgesprochen hat, daß ich ein guter Dolmetscher bin (nicht ganz zu Recht übrigens, wie mir scheint).

Nun bin ich Dolmetscher. Und bleib's. Bis wieder was anderes passiert. Vielleicht veröffentliche ich mal. Dann bin ich sicher Schriftsteller. (Schriftsteller war ich zwischendurch schon mal; als die Sache mit Onkel Otto erfolgsträchtig am Laufen war; seit das untergegangen ist - aus Gründen, die nicht mit der Qualität meiner diesbezüglichen Arbeit zu tun haben - bin ich es nicht mehr.) Oder es kommt was in Bewegung mit der Handelssache. Dann bin ich Geschäftsmann. Wie kann man den Leuten klar machen, daß ich nach wie vor NICHTS bin? Hä? Daß ich in keine Schublade reinpasse? Daß es mir zu eng dort wird? Daß ich vieles tue und daß es verfehlt ist, mich nach dem zu bezeichnen, wo meine Tätigkeit zufällig mal vom Erfolg gekrönt ist? Das hat alles nichts mit mir und der Qualität meiner Tätigkeit zu tun, sondern mit meiner größtenteils gar sehr inkompetenten und insofern nicht maßgeblichen Umgebung; iss also rein zufällig.

Zwischenfliege

In Russland notiertes

Solschenizyn

Moskau, am 12.Juni 1994 *12.52*

X erzählte, daß ein Onkel von Boris A. Mitarbeiter von Stalin war. Und dann: Stalin sei von den "Demokraten" mit Schmutz beworfen worden; doch das werde nun allmählich korrigiert. Stalin sei unmittelbar mit Gott in Verbindung gewesen.

Und er fragte, ob ich die Sache mit Solschenizyn weiter verfolge2. Ich antwortete, daß man nichts mehr von ihm hört. - Worauf er bemerkte, daß man sich nicht mehr für ihn interessiert; und daß man in "Savtra"3 bereits anfängt, sich über ihn lustig zu machen. Er las mir dann einiges vor; was ich dann aber nicht so sehr als "Sichlustigmachen" empfand denn vielmehr als massierte Dummheit. Sagte das auch. Ein Artikel war überschrieben: "Der Ayatolla4 ist in Vladivostok angekommen" (oder so ähnlich). Ich fragte, was das denn für ein Patriotismus sei, wenn man unkontrolliert solche im Westen produzierte Etiketten übernehmen würde. Worauf er ganz kleinlaut wurde. Iss ja in der Tat nicht patriotisch; nich? Besser wäre es natürlich gewesen, gemeinsam mit ihm die Entstehungsgeschichte dieses Etiketts zu untersuchen, damit er versteht, daß das eine reine Verleumdung ist (unabhängig davon, wo sie zusammengezimmert wurde; ob im Westen oder hier)

Zwischenfliege


1) „Drüben“ von Moskau aus gesehen; i.e.: im Westen
2) Das war zu der Zeit, als Solschenizyn nach Rußland zurückkehrte
3) Savtra: Ein plump nationalistisches Blatt (gibt es, scheint's, nicht mehr)
4) Das von westlichen Journalisten begierig aufgegriffene Etikett "Ayatolla" wurde Solschenizyn, wenn ich mich recht erinnere, von dem in Paris lebenden Emigranten E. Etkind angehängt.
Raymond Zoller