Die Klamurke Notizen von unterwegs

Autobiographische Streiflichter

Tagebuchnotiz zu einer Arbeit, die ich für die „Literaturnaya Gaseta“ hätte schreiben sollen und aus einer Reihe von Gründen dann doch nicht schrieb.

Donnerstag, den 23.November 1995 *Moskau

Für die Literaturnaya Gaseta soll ich eine Arbeit schreiben über "umgekehrte Emigration"1; unter besonderer Berücksichtigung meines eigenen Falles. - Abgesehen davon, daß ich die Zeit schon sehr überzogen habe (hab noch nicht einmal angefangen) besteht die Neigung, einen solchen Aufsatz nicht zu schreiben. Das ist alles zu persönlich: erstens hab ich was dagegen, mit meinem Schicksal hausieren zu gehen2; und weiter: wer bin ich denn? Niemand kennt mich. Unbekannter, kaum veröffentlichter, in Luxemburg geborener Schriftsteller. Wenn man das überhaupt so nennen kann und muß.

Dabei ist die Sache fürwahr interessant. Kann mich erinnern, daß ich versuchte, das Problem der "Heimat" in Briefen anzugehen [nicht etwa in Briefwechseln; Briefe mit kompliziertem Inhalt - wie auch einfacher gelagerte; aber komplizierte unbedingt - haben nun mal die Eigenart, daß sie nicht beantwortet werden (selbiges Gesetz der mitteleuropäischen Kultur entdeckte ich erst später; sonst hätte ich besagte Briefe natürlich gar nicht erst geschrieben)].

Dies ist denn bereits meine zweite Emigration.

Die erste war aus Luxemburg in den Bereich des Hochdeutschen. Was hier von allgemeinem Interesse sein könnte - wüßte ich im Moment nicht auszumachen. Höchstens für Leute mit etwas tieferem Einblick kann da was interessantes dabei sein; und solchen kann ich das - so ich sie treffen sollte - auch persönlich erzählen; soweit ich selbst es verstehe.

Luxemburg - das ist die auswegslose Enge des Dialektes; die provinzielle Banalität; kleinkarierte Lehrer3. Völlige Ratlosigkeit und unverständliches Drängen und Wühlen. Sicher waren es auch gewisse Momente meines rein persönlichen Schicksals, die es mir unmöglich machten, mich bereits als Jugendlicher aus dieser Enge herauszuarbeiten.

Die unerträglichen Momente, die mir später zu Bewußtsein kamen, lagen aber weniger in der Kleinkariertheit der Erzieher und sonstigen Unannehmlichkeiten, sondern vielmehr in der auswegslosen Enge des Dialekts und der mit ihm verbundenen Grundstimmung. (Vorteil dieser biographischen Katastrophe liegt als Mindestes in einem ansatzweisen Verständnis für die Beziehung zwischen Muttersprache und Grundstimmung) Und erinnern kann ich mich noch, daß ich darunter litt, daß dort, wo ich aufwuchs, kein richtiger Wasserlauf war; nur ein schlammiger Bach, der sich mühsam durch die Wiesen quälte (später dann stellenweise kanalisiert wurde und schließlich ganz verschwand; letzteres allerdings bereits nach meiner "Emigration".)

Dann kamen die sehr langen Wanderjahre im hochdeutschen Sprachbereich (20 Jahre!). Eine Wüstenwanderung, die aber mit wachsender Bewußtheit verbunden war. Diese Irrfahrt führte, wie ich jetzt verstehe und formulieren könnte, zu einer ersten Bewußtmachung der Mechanismen des "Ohnmächtigwerdens des Geisteslebens". - Im Hochdeutschen fühlte ich mich heimischer als im luxemburgischen Dialekt; menschlich fand ich jedoch keine Heimat; blieb mit meinen zunehmend bewußter werdenden Fragen allein.

Die zweite Emigration war aber bereits durchsetzt mit den Vorboten der dritten. [...] Schon vorher hatte ich aus mir selbst nicht einsichtigen Gründen angefangen, im Selbststudium Russisch zu lernen. - Anfang meiner zwanziger Jahre schenkte ich aus verschiedenen Gründen meinen Träumen verstärkte Aufmerksamkeit; schrieb sie sogar eine zeitlang auf. Da gab es verschiedene immer wiederkehrende typische Situationen. Die eine war etwa die, daß ich mit irgendwelchen großen und aufwendigen Fahrzeugen - manchmal sogar Flugzeugen - durch enge und schmale Gassen manövrieren mußte und darüber völlig aus dem Konzept kam. [...]

Über die Nützlichkeit von Illusionen

Dienstag, den 5.Januar 1993 * Moskau

In manchen Fällen ist auch die Illusion einer Hilfestellung bereits eine Hilfestellung.

Eine Zeitlang ging ich davon aus, in den [...]-Leuten Ansprechpartner zu haben. Eine entsprechende Abmachung lag nicht vor; aber die Worte, die sie machen, ließen darauf schließen, daß sie interessiert sein müßten. - Das war aber alles nichts. Doch die Illusion, daß da eine gewisse Offenheit und Aktionsbereitschaft vorliegt, gab mir die Grundlage, hier überhaupt aktiv zu werden.

[...]4

X5 war eine sublimere Illusion; der zog, wie bekannt, anfangs tatsächlich energisch mit; nur hatte er offensichtlich seine eigenen Pläne, bei denen ich als sich selbst versorgen müssende Hilfskraft zum Einsatz gekommen wäre. Trotz des Zusammenbruchs der Zusammenarbeit war X’s Teilhabe eine wichtige Bedingung dafür, daß ich mich hier in Moskau halbwegs einrichten konnte; und hätte er ein klein wenig Selbstbeobachtung aufgebracht und seine "Herrensohn"-Mentalität entlarvt und in den Griff bekommen, so hätte man sicher auch noch weiter zusammenarbeiten können.

Es wäre nicht uninteressant, genauer zu untersuchen, welche Rolle Illusionen als Stütze und Wegweiser spielen können. Fata Morganas, die zufällig oder auch nicht zufällig in die richtige Richtung weisen.

Vielleicht ist es ein gewisses Gespür meinerseits für "Schicksal" und zugrundeliegende Möglichkeiten, die diese Fata Morganas webt; daß bei größerer Offenheit und Verbindlichkeit der Beteiligten das, was im nachhinein bloß als wegweisende Fata Morgana einen trügerischen Abglanz wirft, sich tatsächlich unter deren Teilnahme hätte real verkörpern können. Insofern wäre es nicht zufällig.

So aber - zieh ich ohne sie weiter; und zurück bleibt die Erinnerung an eine Fata Morgana als Wegweiser...

Natürliche Autorität

Montag, den 11. August 1997 * Moskau

... Wenn nun ich selbst nach solchen Persönlichkeiten [natürliche Autoritäten] in meiner Vergangenheit suche, so fällt mir auf Anhieb M. ein; und dann noch sein Bruder K. Beide waren, wenn ich das rückblickend mit meinen heutigen Begriffen formulieren möchte, die moralisch integersten Persönlichkeiten meiner damaligen Umgebung; M. eher aktiv, K. eher zurückhaltend, bescheiden. Womit ich mit “aktiv” beileibe nicht sagen will, daß M. sich irgendwie aktiv eine Rolle als moralisch integre Persönlichkeit aufbauen wollte; im Gegenteil, er hätte einen ausgelacht, wenn man ihn als solche bezeichnet hätte; er war einfach, wenn man so sagen kann, seiner ganzen Gesinnung nach aktiv anständig.

Eine symptomatische Episode sei angefügt: Irgendwann, schon als Erwachsener und aus irgendwelchen Gründen zu Besuch in jenem Dorfe, saß ich im Café D. (möglich, daß ich darauf wartete, beim Friseur an die Reihe zu kommen; weiß schon nicht mehr). Um die Theke herum saßen die Dorfsäufer, unter ihnen der M.; und dann noch R., ein Jahr älter als ich, einer der “Dorfversager” oder freiwillig-unfreiwilligen Clowns. R. hatte grad mal wieder seine Arbeit verloren; und in der Runde leistete man sich das billige Vergnügen, ihn nach Herzenslust aufzuziehen. Auch M. nahm an diesem Aufziehen teil; aber mehr am Rande; zudem hatte das Ganze bei ihm einen durchaus gutmütigen Charakter und, vor allem: es lief darauf hinaus, daß er die Frage aufbrachte, wie man R. am besten aus der Patsche helfen könnte. Und er half; die Sache endete damit, daß er ihm gleich an Ort und Stelle eine neue Arbeit verschaffte. Für seine “Geistesart” eine durchaus typische Handlungsweise. M. gehörte zum Kreise der Dorfsäufer und versackte immer mehr im Suff (seine Endphase habe ich nicht mehr miterlebt); was blieb ihm auch anders übrig in diesem hinterwäldlerischen Dorf; das Zeug, sich da rauszureißen und ganz andere Wege zu gehen, hatte er denn doch nicht... Aber vielleicht hatte er gerade in diesem Kreise der Dorfsäufer eine gewisse positive Funktion (ja nu, hatte er sicher)... Ich hätte ihm gerne noch gesagt, was ich von ihm hielt und halte; aber leider ist er inzwischen, im Suffe abgesackt, verstorben.

Die beiden haben, wie mir rückblickend scheint, trotz nur spärlicher Kontakte viel mehr zu meiner Erziehung beigetragen als Eltern und Lehrer. Von den Lehrern braucht man sowieso nicht zu reden; die haben in erster Linie gestört und zerstört und mich mit Schrott vollgestopft, den ich dann später mühsam ausmisten mußte (da aber selbiges Ausmisten mir sehr viel Erfahrungen und Einblicke verschaffte, die mir sonst verschlossen geblieben wären, war auch die Störtätigkeit der Lehrer nicht umsonst)

M. arbeitete, nebenbei bemerkt, als subalterner Angestellter in der Gemeindeverwaltung, und K. in einer Holzverarbeitungsfirma.


1)„Umgekehrt“ in Bezug auf die als „normal“ betrachtete Emigration, da jemand aus dem nicht so sehr mit materiellen Gütern gesegneten Rußland in den in dieser Hinsicht besser versorgten Westen strebt.
2)Allfälligen auf der Lauer liegenden überlegenen Ratgebern & Kritikern (für die det alles zwar gar nicht gemeint ist) den Wind aus den Segeln nehmend: Hätte ich die vorgesehene Arbeit in Russisch für ein mit der westlichen Atmosphäre kaum vertrautes russisches Publikum geschrieben, so hätte ich solches als ein unsinniges Hausierengehen mit meinem Schicksal empfunden (aus welchem Grunde ich det ja dann auch nicht schrieb). Wenn ich aber nun diese Erwägungen im Umfeld der nicht geschriebenen Arbeit in deutscher Sprache für ein paar wenige mit jener Atmosphäre bewußten oder halbbewußten Umgang pflegende deutschsprachige Leser veröffentliche, so scheint mir das in gewisser Hinsicht berechtigt.
3)Für den Fall, daß jemand betroffenes sich auf diese Seiten verirren sollte: Ich meine in erster Linie die Primarschulzeit. Am Gymnasium gab es – neben vereinzelten Katastrophenfällen – durchaus gute Leute, welche die allgemeine Trübe sogar etwas auflockern konnten.
4)Hier war ursprünglich eine endlose Auflistung knapp skizzierter richtungsweisender Fata Morganas, die in dieser knappen Darstellung für Außenstehende gar nicht verständlich wäre. Also – entweder ausführlicher darstellen, oder rausschmeißen. Ich entschied mich für letzteres. – Den Rest ließ ich stehen, da der Grundgedanke – eben das mit den richtungsweisenden Fata Morganas – als solcher mir interessant scheint.
5)Näheres zu diesem Abenteuer findet man hier
Raymond Zoller