Die Klamurke Notizen von unterwegs

In Russland Notiertes

Europas Leichenwüsteneien

Nach ereignisreichem Aufenthalt in Russland – wo ich abseits der ausgelatschten Pfade und ohne Rücksicht auf das, was "üblich ist", sich bietende Aufgaben und Ansätze aufgriff – am 22. März 1991 wieder nach Deutschland. Gereist war ich wieder im Auftrag des Diakonischen Werks; hatte alles, was man mir aufgetragen hatte, erledigt. Und so manches darüber hinaus. Unter anderem hatte ich eine Filmexpedition auf die Solowjezki-Inseln organisiert und durchgeführt.

Eine Menge Aufgaben sah ich nun vor mir, um sinnvoll Begonnenes weiterzuführen. Und kehrte zurück mit dem dumpfen Vorgefühl: daß es schiefgeht.

Samstag, den 23.März 1991 *8.30*
Dortmund, Borussiahaus

Herumdösen darf ich mir jetzt nicht mehr erlauben. Hatte mir ursprünglich Genesungsurlaub bis Montag gegeben, um eine leichte Grippe auszukurieren. Die Grippe war aber bereits gestern fast weg; so daß das wegfällt.

Rückkehr aus dem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten in die deutsche Ordnung, Nüchternheit, Phantasielosigkeit. Und hier, in dieser unerquicklichen, toten, teilweise verfaulten Umgebung muß ich nun schleunigst einige Dinge ankurbeln, damit ein kleiner Beitrag geleistet wird, daß diese unbegrenzten Möglichkeiten ihre Realisierung nicht ausschließlich an der negativen Seite des Spektrums finden. Letzterer Weg ist vorgezeichnet; und ganz allgemein herrscht die Ansicht, daß der Abgrund unabwendbar ist.

Ich durfte mich davon überzeugen, daß dem nicht so ist. Mal sehen, was ich hier erreichen kann und wie weit das engagierte Nachahmer findet...

Noch vorgestern früh, in Moskau, mit leichter Grippe, fühlte ich, daß ich zum Entgrippen dringend Früchte essen muß. Früchte waren keine da. Hier kann ich zum Wertkauf gehen, sofern er aufhat und falls ich Geld habe, und mir welche kaufen. Trotzdem: Lieber in Moskau mit Grippe und ohne Früchte als hier mit allen äußeren Gaben....

[…]

In Düsseldorf, als das Flugzeug stand, starrte ich, auf das Aussteigen wartend, aus dem Fenster in diese wohlgeordnete Welt, auf all diese Leute, die genau wissen, was sie wollen, und wurde zunehmend von miesester Laune gepackt... Und hier muß ich nun Pfade schlagen für die Fortsetzung des in Rußland begonnenen... Unerquicklich, sehr unerquicklich...

*13.56*

Gespräch gestern Abend beim Espressotrinken. Erzählte ein bisschen, wie es drüben aussieht und was ich so treibe. Auch über das Solowjezki-Kloster. Erwähnung der zwei Millionen[1] von Solschenizyn. Zwischenfrage: Wer ist Solschenizyn?[2]

Hä?

Mit F. telefoniert. An einer Mitarbeit als gelegentlicher Gastdozent sind die am Institut offenbar interessiert... Nee, Freunde: Ich bin schon wieder weiter; ich fürchte, ihr holt mich wieder mal nicht ein. Als Russischlehrer an der Waldorfschule wollte man mich nicht haben. Dafür sollte ich nun plötzlich selbst bei der Ausbildung von Russischlehrern zum Einsatz kommen... Schmeichelhaft und nicht einmal uninteressant... Doch die Bedingungen und Aufgaben ändern sich; und was vor einem Monat unter Umständen noch gegangen wäre geht nun ganz sicher nicht mehr...

Ich gestatte mir, heute noch nicht mit voller Kraft loszulegen. Zum Beispiel sehe ich mich noch nicht in der Lage, verschiedene Telefonate zu absolvieren... (in Rußland sah ich mich in jeder Stimmung und in jedem Stadium der Erschöpfung in der Lage, zum Telefonhörer zu greifen und die kompliziertesten Gespräche zu führen; trotz der oftmals miserablen Verbindung, wo man sich nur mit Mühe gegenseitig verstehen konnte)

In Deutschland beginnt der Frühling. Die Bäume schlagen aus. In der gekonnt und liebevoll angelegten kleinen Parkanlage am Borussiahaus die ersten Blumen. - Und gestern um diese Zeit war ich noch in Moskau. Der Schnee ist schon fast weg; doch von Frühling keine Spur.

Und noch nicht mal eine Woche ist's her - da stapfte ich durch gürteltiefen Schnee... Nicht in Moskau, auf Solovjezk war das...

Freitag, den 19.April 1991
Borussiahaus

Die Unmöglichkeit, mich in den geordneten Ablauf meiner unmittelbaren räumlichen Umgebung einzufinden... Die "Ordnung", nach der sich mein Leben ausrichtet, war bislang kaum verkörpert; sie jagte mich kreuz und quer durch die Gegend oder ließ mich resigniert irgendwo vor mich hin darben...

Inzwischen sind Ansätze da zu einer "Verkörperung" in den irdischen Abläufen; reale, nennbare Beziehungen sind da; und doch: wo liegen die Fixpunkte? Weit ausgebreitet in der Geographie; hauptsächlich in Wolgograd, in Moskau, in Archangelsk; und, schwächer und den ersteren mehr oder weniger untergeordnet, in München, Stuttgart, Dortmund, in gewisser Hinsicht sogar Luxemburg (außer, daß ich dort geboren bin sehe ich in Luxemburg allerdings kaum Wurzeln)

Meine Schritte werden durch diese Schwerpunkte bestimmt; unter Umgehung der unmittelbaren Umgebung.

- Stotternder Versuch, eine bestimmte Eigenart meines Lebens zu umreißen.

*13.50*

Ich war drüben[3] zum Mittagessen. Gut hat es geschmeckt. Aber es ist entschieden zu eng. Zwei Welten, die irgendwie nicht zusammenpassen: Meine und ihre. Gesprochen wurde davon, daß Klaus[4] zu viel arbeitet. Und unübersehbar wusste man genau, wo er seine Schwerpunkte setzen soll. Ich erwähnte den Solschenizyn-Aufsatz. Das beabsichtigte Interview. Aber das fanden sie nicht gut. Klaus muß sich schonen. Natürlich muß er sich schonen... Mich aber irritierte die Leichtfertigkeit, mit der die Sache beiseitegeschoben wurde. Man hat keine Ahnung, worum es geht. Irgendso 'ne nebulose Information liegt vor, daß ich irgendwo in Wolgograd herumschwirre. Also will ich Klaus nach Wolgograd schleppen. Ich stellte immerhin klar, daß es sich in vorliegendem Fall nicht um Wolgograd handelt, sondern um Moskau, und dass ich den Klaus weder nach Wolgograd schleppen will noch nach Moskau. Worum es geht - wissen sie nicht. Interessiert sie offensichtlich auch nicht. Rußland, die Sowjetunion - das ist doch dieses Etwas, von dem man ab und zu in den Zeitungen liest oder am Fernsehen in den Nachrichten was sieht? Ähä.- Und ich - bin dieser komische Kauz, der aus unerfindlichen Gründen hier seine Zelte aufgeschlagen hat; der mit den komischen Ansichten und dem merkwürdigen Lebenswandel? Den man eigentlich nicht ernstnehmen kann?

Ich werde sie abbrechen, die Zelte... Ich bleib noch hier, solange es hier im Umkreis etwas abzuklären gibt. Und dann verschwinde ich.

*14.27*

Eigentlich blöd, wenn man sich um so weitreichende Dinge zu kümmern hat und mit niemandem reden kann. Sich mit niemandem beratschlagen kann. Nicht, weil man irgendeiner Schweigepflicht unterliegen würde... Sondern ganz einfach, weil niemand sich dafür interessiert.

Hier hock ich denn, mit meinen Büchern und meinem Computer. Den Büchern entwinde ich die in sie hineingewobenen Gedanken ihrer Autoren; in den Computer tipp ich meine eigenen Gedanken oder versuch es zumindest. Dös iss meine Kommunikation.


1) Es hieß, Solschenizyn habe zwei Millionen locker gemacht für die Restaurierung des Klosters

2) Das war im Borussiahaus, dem damaligen Sitz des hochgelahrten Novalis-Hochschulvereins. Die Frage kam von einem zu Besuch weilenden Bekannten eines Studenten. Ob jener Mensch wirklich nicht wusste, wer Solschenizyn ist, oder ob die Frage als Provokation gedacht war, als Verspottung meines Russland-Engagements – habe ich nicht verstanden. Aber doch egal; die im Hintergrund wirkende selbstgefällige Borniertheit war so oder so deutlich. Kann mich nach all den Jahren gut an das "Gespräch" erinnern: nach erstem Plätschern der endgültige Rutsch ins kalte Wasser.

3) Bei den Novalis-Mitarbeitern

4) Klaus Hartmann; damals einer der ganz wenigen in jener Ecke, mit denen ich mich normal verständigen konnte. Er schickte sich an, eine größere Arbeit über Solschenizyn zu schreiben. Was ich gut fand; und ich hatte in Moskau bereits Anknüpfungspunkte geschaffen, um einen solchen Aufsatz in russischer Übersetzung zu veröffentlichen. Meinen eigenen Schreibkünsten traute ich damals noch nicht so recht über den Weg; aber so oder so hätte Klaus durch eine solche Arbeit vielleicht einen Ansatz geschaffen, sich gelegentlich, nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, sinnvoll in mein Russland-Engagement einzuschalten. – Klaus ging im Weiteren dann leider in der "Milieu-Gesinnung" unter; haben schon seit vielen Jahren keinerlei Kontakt mehr.





Raymond Zoller