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Als ich in München lebte, war ich befreundet mit Fedja Varkony, dem Arzt, der – selbst Gefangener – im Lager Solschenizyn an Krebs operiert hat. Der Betreffende hat auch als erster von dem Gefangenenaufstand im Kengir-Lager berichtet, an dem er maßgeblich beteiligt war. (das war unmittelbar nach dem Tod Stalins, als die GPU-Leute nicht so recht wussten, was tun; und während dieser Verwirrung unter den Schergen formierte sich im Kengir-Lager ein organisierter Gefangenen-Aufstand: Anderthalb Monate lang war das Lager in der Hand der Gefangenen.
Fedja hatte mir ein paar Reliquien aus jener Zeit übergeben; darunter Miniaturfotos von maßgeblichen Organisatoren des Aufstands und auch von Olga Ljadskaja, seiner Lager-Freundin. Nämlich waren die Dunkelkammern mitsamt Fotoapparaten während des Aufstands in der Hand der Gefangenen; und fleißig wurde fotografiert und entwickelt. Die Fotos waren so klein, weil sie sich in diesem Format leichter aus dem Lager herausschmuggeln ließen.
Später wollte er die Fotos wieder zurück haben; er starb dann; und seitdem sind sie, die Fotos, verschollen. Auch seine Witwe hatte keine Ahnung, wo er sie hingetan hat.
Gleich zu Anfang des Lageraufstands wurde die Wand zwischen Männer- und Frauenlager niedergerissen; es kam, naturgemäß, zu zahllosen Liebeleien und festen Bindungen. Fedja war mit einer gewissen Ольга Лядская (Olga Ljadskaja) liiert. Olga Ljadskaja gehörte während des Kriegs zu dem Zusammenhang, dem Фадеев (Fadejev) seinen Roman „Молодая гвардия“, „Molodaya Gvardija“ gewidmet hat. Die Ljadskaja in jenem Roman spielt nun eine sehr negative Rolle, die – wie man mir sagte – mit dem Tun der realen Ljadskaja wenig bis gar nichts zu tun hat. Aber eben wegen dem Treiben der Roman- Ljadskaja wurde die reale Ljadskaja verhaftet und kam ins Lager. Wo sie während des Aufstands mit Fedja liiert war. Und eine gemeinsame Tochter kam zur Welt. Fedja hoffte, ich würde die irgendwann mal finden. – Und tatsächlich hätte ich sie fast gefunden. Ende der achtziger Jahre, Fedja war kurz vorher gestorben, hatte ich in Frankfurt zu tun. Irgendein Instinkt, oder „Bauchgfühl“ (wie ich solche zielstrebig treibende Kräfte zu nennen pflege) drängte mich in die Bahnhofsbuchhandlung, und dort an den Stand mit russischen Zeitschriften. Ich kaufte die Literaturnaja Gaseta. Und in dieser Literaturnaja Gaseta fand ich einen langen Artikel über die irgendwo in der Ukraine (hab vergessen, wo genau) lebende Tochter von Fedja Varkony und Olga Ljadskaja. Später, in Moskau, schaute ich dann in der Redaktion der Literaturnaja Gaseta vorbei, um nähere Information zu bekommen (das war mein erster Besuch im Redaktionsgebäude der Literaturnaja Gaseta; daß ich ein paar Jahre später dort häufig reingehen und sogar für jene Literaturnaja Gaseta schreiben würde konnte ich damals ja nicht wissen). Aber bei dem in jenen Zeiten herrschenden Übergangsdurcheinander konnten sie nix finden; und entsprechend konnte ich Fedjas Wunsch, seine Tochter zu finden, nicht erfüllen. – Auch später, als die Besuche in der Literaturnaja Gaseta für mich zum normalen Alltag gehörten, konnte ich sie nicht finden… Aber da hatte ich anderes um die Ohren. – Erst sehr viel später, als alles zu spät war, fiel mir ein: dass man einen Artikel hätte ansteuern können über dieses merkwürdige Schicksalsgeflecht; unter gezielter Nutzung der damals vorhandenen Kontakte und Möglichkeiten hätte man sie vermutlich schnell gefunden.
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Einen ausführlichen von Fedja Varkony verfassten Bericht über den Kengir-Aufstand findet man hier. - In Russisch ist das; zum Übersetzen etwas zu umfangreich.
In Solschenizyns „Archipel Gulag“ ist dem Aufstand ein ganzes Kapitel gewidmet; das gibt es auch in deutscher Übersetzung