Die Klamurke Notizen von unterwegs

Die beiden Nabokows, Vater und Sohn

Wladimir Dmitrijewitsch und Wladimir Wladimirowitsch

Am 24. September 2017 auf einer Veranstaltung des Münchener Deutsch-Russische Kulturzentrum „Mir“ gehaltener Vortrag: Auszüge aus der Autobiographie von Wladimir Wladimirowitsch und aus sonstigen Werken, zusammengestellt und kommentiert von R. Zoller.

Die verwendeten Zitate aus den Nabokow-Memoiren findet man in Russisch mit möglichst wortwörtlicher deutscher Übersetzung und mit Kommentaren zu Grammatik und Wortbedeutung unter diesem Link

♦♦♦

Wladimir Wladimirowitsch Nabokov wurde am 22. April 1899 in Petersburg geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er teils in Petersburg, teils auf Landgütern in der Umgebung, teils auch auf Auslandsreisen. Sein Großvater väterlicherseits war Justizminister; sein Vater, gleichfalls Jurist, lehrte als Professor an der Akademie für Rechtskunde und war zudem Kammerjunker am Zarenhof.

Kurz vor seinem 18. Geburtstag begannen in Petersburg jene Unruhen, die schließlich zur sogenannten Februarrevolution auswuchsen und somit die Grundlage schufen für die Oktoberrevolution, welche ihn und seine Familie in die Emigration zwang.

Anhand von Zitaten aus seiner Autobiographie lassen wir im Weiteren Wladimir Nabokov selbst erzählen. – Autobiographien hat er mehrere geschrieben; in unterschiedlichen Sprachen für Leser mit unterschiedlichem Hintergrund. Solches war ihm möglich, da er – wie in wohlhabenden Familien vor der Revolution häufig der Fall – mehrsprachig aufwuchs, mit französischen und englischen Privatlehrern; und bei Nabokov entwickelte sich diese Mehrsprachigkeit bis ins Literarische hinein.

Wir nahmen die Biographie, die er in russisch für seine russischen Landsleute geschrieben hat, und haben einige Stellen, die uns in unserem Zusammenhang interessant schienen, ins Deutsche übersetzt.

Wenn man diese Autobiographie liest, so staunt man über die Präzision, mit welcher er jedes kleinste Detail seiner Erlebnisse in früher Kindheit und Jugend wiedergibt.

Auf den ersten Seiten ebenjener Autobiographie äußert er sich zu diesem umfassenden Erinnerungsvermögen. Er meint, daß er damit nicht alleine ist und daß man solches Vermögen bei vielen Landsleuten seiner Generation antreffen kann:

***

… mir scheint, daß die Kinder meiner Generation und meines Milieus bezüglich dieses frühen umfassenden Aufnehmens der Welt von wahrhaft genialer Empfänglichkeit waren: als habe das Schicksal – in Voraussicht der Katastrophe, welche auf einen Schlag endgültig die angenehme Dekoration zerstören sollte – sich ehrlich bemüht, für den kommenden Verlust Ersatz zu schaffen, indem es die Seelen mit nicht ihrem Alter entsprechenden Reichtümern beschenkte.

Другие берега, I, 2

♦♦♦

Beginnen wir mit einer Schilderung aus dem Leben aufgeklärter russischer Aristokraten im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts:

***

In diesem merkwürdigen ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts vermischten sich in phantastischer Weise Neues mit Altem, Liberales mit Patriarchalischem, fatale Armut mit fatalistischem Reichtum. Ab und zu kam es vor, daß während des Frühstücks im nußbaumholzverkleideten Speisesaal unseres Hauses in Wyra der Diener Alexei sich mit betrübter Miene zu meinem Vater herabbeugte und ihm flüsternd berichtete (wobei durch die Anwesenheit der Gäste sein Flüstern ganz besonders lispelig klang), daß draußen Bauern warten und ihn um ein Gespräch bitten. Mein Vater legte dann mit einer raschen Bewegung die Serviette von den Knien auf das Tischtuch, entschuldigte sich bei meiner Mutter und verließ die Tischgesellschaft. Eines der östlichen Fenster ging auf den Rand des Gartens am Haupteingang; und von dort ertönte höfliches Gemurmel: eine unsichtbare Menschenschar begrüßte den gnädigen Herrn. Wegen der Hitze waren die Fenster geschlossen, so daß man nicht verstehen konnte, worüber gesprochen wurde. Vermutlich baten die Bauern um die Erlaubnis, irgendwo Gras zu mähen oder Holz zu fällen; und wenn, wie es sich häufig ergab, der Vater sofort sein Einverständnis gab, begann wieder Stimmengewirr, und nach altem russischem Brauch hoben kräftige Hände meinen Vater hoch und warfen ihn mehrmals in die Luft.

Другие берега, I, 5

♦♦♦

Und nun erleben wir ihn, wie er während dieses merkwürdigen ersten Jahrzehnts in der Petersburger Wohnung seiner Eltern abends zum Fenster hinausschaut und auf seinen meist sich verspätenden Englischlehrer wartet: Mit kurzer Vorschau auf das, was er zehn Jahre später, an diesem gleichen Fenster stehend, zu sehen bekommt:

***

Das Boudoir meiner Mutter hatte einen herausragenden Erker, von dem aus man die Morskaya-Straße bis hin zum Mariinski-Platz überschauen konnte. Wenn ich die Lippen an den dünnen gemusterten Vorhang preßte, konnte ich durch den Stoff hindurch die Kühle der Scheibe genießen. Nur ein Jahrzehnt später, während der ersten Tage der Revolution, beobachtete ich durch dieses Fenster eine Schießerei auf der Straße und sah zum ersten Mal im Leben einen getöteten Menschen. Man trug ihn dahin, ein Bein baumelte herab. Einer von den Lebenden versuchte, ihm den Stiefel auszuziehen, doch stieß man ihn grob zurück. – Jetzt hingegen gab es überhaupt nichts zu beobachten, außer der trotz heller Laternen in dunkles Lila getauchten unbelebten Straße. Die Laterne, die am nächsten war, wurde umtanzt von langsam kreisenden Schneeflocken; nur leicht drehten sie sich, als wollten sie in absichtlich verlangsamter Bewegung zeigen, wie das geht und wie einfach es ist.

Другие берега, IV, 5

♦♦♦

Und nun eine Reise nach Paris im Jahre 1909, mit kurzer Vorschau auf das spätere Schicksal des sie begleitenden Kammerdieners Ossip

***

In meiner Erinnerung kann ich mindestens fünf Reisen nach Paris mit jeweiliger Weiterreise an die Riviera oder nach Biarritz auseinanderhalten. Nehmen wir mal die Reise von 1909. Mir scheint, als seien meine Schwestern – die sechsjährige Olga und die dreijährige Elena – unter der Obhut der Ammen und Tanten in Petersburg geblieben. (Elena meint, daß das so nicht stimmt und daß sie mit dabei waren.) Mein Vater, in Reisemütze und Wildlederhandschuhen, sitzt mit einem Buch in einem Abteil, welches er mit Max, unserem damaligen Erzieher, teilt. Mein Bruder Sergei und ich sind von ihnen getrennt durch den von beiden Seiten zugänglichen Toilettenraum. Im nächsten, an das unsere angrenzenden Abteil – meine Mutter mit ihrer bejahrten Kammerdienerin Natascha und ihrem schlechtgelaunten Dackel. Ossip, der Kammerdiener meines Vaters (der zehn Jahre später pedantisch von den Bolschewiken erschossen wurde, weil er unsere Fahrräder selbst übernommen hatte, statt sie dem Volke zu geben), teilt das vierte Abteil mit einem Fremden, dem französischen Schauspieler Féraudy.

Другие берега, VII, 1

♦♦♦

Und nun eine Schilderung von Nabokows Großmutter, der Mutter des Vaters, wie sie sich über ihren aus der Art geschlagenen Sohn in kummervollem Grame grämt.

Zur Zeit von Nabokows Geburt war sein Vater Professor und Kammerjunker. Später war er dann weder Professor noch Kammerjunker, da man ihm im Jahre 1905 aufgrund seines politischen Engagements diese Titel aberkannte.

Auf Nabokows Vater kommen wir noch zu sprechen. Hören wir uns erst mal an, wie Nabokov seine Großmutter beschreibt:

***

In spitzenbesetzten Armstulpen, in prunkvollem seidenem Peignoir, mit schwarzem, in seiner plastischen Rundung wie eine Fliege aussehendem Muttermal auf der rosigen Wange, wirkte sie wie eine stilisierte Figur in einem historischen Museum; und wie ein ebensolches Exponat wirkte ihr himmelblaues Sofa, auf dem sie den ganzen Tag, sich mit ihrem Elfenbeinfächer bewedelnd und runde Hustenbonbons lutschend, zu liegen pflegte und unablässig sich beklagte, daß irgendwelche finstere Mächte den liebsten ihrer Söhne verhext haben und ihn von einer glänzenden Beamtenlaufbahn abhalten. Vor allem konnte sie nicht verstehen, wie mein Vater, der doch so sehr Genüsse schätzt, welche nur bei sehr großem Reichtum zugänglich sind, seinen Reichtum aufs Spiel setzen kann, indem er zum Liberalen wird, das heißt zum Wegbereiter der Revolution, welche (wie sie ganz richtig voraussah) ihn letztendlich in die Armut treiben wird.

Другие берега, VIII, 1

♦♦♦

Kommen wir nun zu Nabokows Vater, welcher also die Genüsse schätzte, welche nur bei sehr großem Reichtum zugänglich sind, und der seinen Reichtum aufs Spiel setzte, indem er zum Liberalen wurde.

Obwohl in den bestehenden Verhältnissen wohl etabliert als Kammerjunker und als Professor der Jurisprudenz, widmete er sich politischem Engagement, welches sich außerhalb der etablierten Kreise bewegte.

Schon während seiner Studentenzeit neigte er zu nicht konformem Verhalten und zeigte dabei Originalität und Charakterstärke. 1890 wurde er wegen Teilnahme an einer Studentendemonstration verhaftet und ins Gefängnis, die „Kresty“, gesperrt. Da er aber der Sohn eines ehemaligen Justizministers war, wollte die Gefängnisleitung ihn freilassen; doch Wladimir weigerte sich, ohne seine Freunde das Gefängnis zu verlassen; und so blieb nichts anderes übrig, als alle freizulassen.

1904, zur Zeit des russisch-japanischen Krieges, weigerte er sich, einen Toast auf die Gesundheit des Zaren zu erheben. Und wie ihm schließlich wegen der verschiedensten kleineren und größeren Verfehlungen die Kammerjunker-Würde aberkannt wurde, bot er seelenruhig in Zeitungsanzeigen seine Kammerjunker-Uniform zum Verkauf an.

Seit 1904 war er zentral beteiligt an der Schaffung einer „Konstitutionell-Demokratischen Partei“, abgekürzt KD, und von daher die gängige Bezeichnung „Kadety“, „Kadetten“. 1906 wurde er in Zusammenhang mit dieser Kadettenpartei in die erste Duma, das erste russische Parlament gewählt.

Wie in Parteien üblich, gab es auch bei den „Kadetten“ Leute mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten und Triebfedern, vom stumpfsinnigen Karrieristen bis zum hochintelligenten Idealisten, und dazwischen alle möglichen Mischformen. Und wie bei Parteien von jeher üblich, wird der Kampf mit anderen Parteien, darunter auch mit der Staatsmacht, sehr leicht zu Gewohnheit und Selbstzweck. Wenn man sich die verschiedenen Biographien und Autobiographien und Schilderungen der Umstände zu Gemüte führt, gewinnt man den Eindruck, daß die Kadetten hier keine Ausnahme machten; daß Nabokov – der Vater also unseres Dichters – sich durch Fähigkeiten und Gesinnung wohltuend hervortat, und daß er trotzdem der Routine des Machtkampfes gelegentlich zum Opfer fiel und dreinschlug, wo es sinnvoller gewesen wäre, miteinander zu reden.

Auch in der Regierung gab es, wie oft in Regierungen, ein Spektrum der unterschiedlichsten Fähigkeiten und Gesinnungen, vom stumpfsinnigen Karrieristen bis hin zum klardenkenden Idealisten. In der damaligen Regierung gab es gute Leute, die nur zu gern mit guten Leuten aus der „Opposition“ konstruktiv zusammengearbeitet hätten.

Und auch der Zar selbst war keineswegs ein Unmensch. Wenn man seine Tagebücher durchliest, sich verschiedene Umstände vergegenwärtigt, in denen er handelte oder hätte handeln sollen, bekommt man den Eindruck, daß das ein hochanständiger treusorgender Familienvater war, der nur das Pech hatte, in eine Position hineingeboren zu werden, welcher er partout nicht gewachsen war. Und weil er seiner Position nicht gewachsen war, wurde er zum Spielball der Hofintrigen; was sich zuungunsten der fähigen Leute und somit auch des Wohles der Bevölkerung auswirkte, da fähige Leute meist weniger an Intrigen interessiert sind denn an ihrer Arbeit und dadurch – da sie den professionellen Intriganten sowieso meist im Wege sind – am ehesten den Hofintrigen zum Opfer fallen.

Als im Frühjahr 1906 das erste russische Parlament, oder, wie man das auf Russisch nennt, die erste Duma eröffnet wurde, war Nabokows Vater als sehr aktiver Deputierter mit dabei. Schon ein paar Monate später wurde diese Duma – unter dem Vorwurf, daß man, statt sich konstruktiv mit Fragen der Gesetzgebung zu beschäftigen, aufrührerische Aufrufe an die Bevölkerung verfasst und sich massiv in Dinge einmischt, die nicht in die Zuständigkeit der Duma fallen – durch einen Zarenerlass wieder aufgelöst. Die ganzen Dumadeputierten hatten über Nacht ihren ehrenvollen Titel verloren; und eine größere Gruppe von ihnen fuhr stracks nach Wyborg, um gemeinsam zu überlegen, was nun zu tun sei. Darunter auch Nabokows Vater. – In Wyborg verfasste man dann den sogenannten „Wyborger Aufruf“, darin man die Bevölkerung aufrief, einer Regierung, die es gewagt hat, das Parlament aufzulösen, keine Steuern mehr zu zahlen und keine Soldaten zu geben. – Der Aufruf verhallte ohne jede Folgen; und auch die Staatsmacht schenkte ihm zunächst weiter keine Beachtung; aber irgendwann beschloss man denn doch, die Unterzeichnenden zur Rechenschaft zu ziehen.

In diesem Zusammenhang ein kurzes Zitat aus der Autobiographie unseres Wladimir Wladimirowitsch Nabokow:

***

Anderthalb Jahre nach dem Wyborger Aufruf verbrachte mein Vater drei Monate im Gefängnis „Kresty“: in einer bequemen Zelle, mit eigenen Büchern, Müller-Gymnastik und einer zusammenlegbaren Gummibadewanne, italienisch lernend und illegal mit meiner Mutter Briefe austauschend (auf schmalen Toilettenpapierschnipseln, die durch einen treuen Freund unserer Familie überbracht wurden).
Als er freigelassen wurde, hielten wir uns gerade außerhalb der Stadt auf unserem Landsitz auf. Wassili Martynowitsch, mein Hauslehrer, führte bei dem feierlichen Empfang Regie; er schmückte den Feldweg mit grünen Zweigen und, ohne jede Scheu, mit roten Bändern. Der Vater kam, zusammen mit der Mutter, von der Eisenbahnstation Siverskaja, und wir Kinder fuhren ihnen entgegen.

Другие берега, I, 4

♦♦♦

Ab Juli 1914 war Nabokows Vater in der Armee. Er vertrat die Ansicht, daß er aufgrund seiner Position zur Zeit des Krieges sich von Partei und Politik fernzuhalten hat, und verhielt sich zum politischen Geschehen als neutraler Beobachter.

In den Anfängen jener Februarunruhen, mit denen die Staatsmacht nicht fertig wurde und bei denen die Bevölkerung glaubte, die Duma habe die Macht übernommen, während man in der Duma auch nicht so recht wußte, was los ist, wurde Hals über Kopf die provisorische Regierung gebildet.

Nabokows Vater gab seinen Posten beim Militär auf, beteiligte sich am Aufbau einer neuen Staatsmacht und wurde schließlich zum Regierungssekretär ernannt.

Im Nachfolgenden ein Zitat, wo er erwähnt wird. Diesmal nicht aus den Memoiren seines Sohnes, sondern aus den gleichfalls sehr lesenswerten Memoiren von Wassilij Schulgin, der das alles hautnah als aktiv Beteiligter miterlebt hat

Wassili Schulgin ist derjenige, der, zusammen mit Alexander Gutschkow, die Abdankung des Zaren entgegengenommen hat. Ursprünglich hatte die Absicht bestanden, zumindest vorerst die Monarchie aufrechtzuerhalten und als Thronfolger, wie es sich gehört, Alexei, den minderjährigen Sohn der Zarenfamilie, einzusetzen. Doch Nikolai, als treusorgender Familienvater, wollte seinen gesundheitlich schwachen Sohn nicht diesen politischen Mühlen überlassen und legte Wert darauf, daß man als Thronfolger seinen Bruder Michail einsetzt.

In diesem Sinne wurde dann auch die Abdankung unterschrieben.

Im Weiteren betrachtete man es als sinnvoll, daß auch Michail auf den Thron verzichtet; und auch er selbst hatte keine allzugroße Lust, Zar zu werden. So kam es denn zur Unterzeichnung einer Thronverzichtserklärung, bei deren Erstellung und Unterzeichnung Nabokows Vater zugegen war.

Die erwähnten Njekrassow und Kerenskij sind Mitglieder der provisorischen Regierung.

Aus den Memoiren von Wassili Schulgin also:

***

Njekrassow zeigte mir seinen Entwurf des Thronverzicht-Aktes. Doch der war unbrauchbar. Wenn ich mich recht erinnere, bekamen Njekrassow, Kerenskij und ich den Auftrag, ihn zu verbessern.
[…]
Die Fürstin Putjatina bat uns zum Frühstück.
[…]
Beim Frühstück fragte mich der Großfürst:
„Wie hat mein Bruder sich gehalten?“
Ich antwortete:
„Seine Hochwohlgeboren waren erstaunlich ruhig… Erstaunlich ruhig war er…“ - Ich erzählte ihm dann im Einzelnen, wie das alles war…
*
Nach dem Frühstück gingen wir – das heißt also diejenigen, die den Thronverzichts-Akt zu redigieren hatten – in ein anderes Zimmer. Ein Kinderzimmer war das. Kinderbetten, Spielzeug, kleine Schulbänke…
Auf diesen Schulbänken wurde das dann alles geschrieben…
Bald schon rief man Nabokov und Nolde herein.
Eben diese beiden bearbeiteten den Entwurf von Njekrassow, da Njekrassow selbst und auch Kerenskij dauernd hinausgingen, dann wieder hereinkamen…
Kerenskij trieb unablässig zur Eile an, betonte, daß die Lage sehr ernst ist.
Doch eben er brach immer wieder Diskussionen vom Zaun.
[…]
Endlich waren wir fertig und übergaben den Text dem Großfürsten. Zu dem Moment waren nur Nolde, Nabokov und ich im Kinderzimmer. Nach einiger Zeit brachte der Sekretär […] den Text zurück und übermittelte die Bitte des Großfürsten, in Bezug auf seine Person nicht „wir“ zu schreiben, sondern „ich“ (und wir hatten überall „wir“ geschrieben). Nämlich sei der Großfürst der Ansicht, daß er den Thron nicht angenommen hat und zu keinem Moment Zar gewesen ist, und daß er somit nicht „wir“ sagen darf. Und zweitens, aus dem gleichen Grunde, sollen wir statt des Ausdrucks „ich befehle“ (wie wir geschrieben hatten) „ich bitte“ schreiben.
[…]
All dies führten wir aus und übergaben den Text wieder dem Großfürsten, der ihn diesmal annahm.
Nabokov setzte sich auf eine Schulbank und schrieb alles ins Reine.
*
Der Großfürst […] sagte zu mir:
„Mir fällt das alles sehr schwer. Es quält mich, daß ich mich mit den Meinen nicht beraten konnte. Mein Bruder hat für sich selbst auf den Thron verzichtet… Und ich, wie es sich ergibt, verzichte für alle…“
*
Das war so um vier Uhr nachmittags. Am Fenster jenes Zimmers mit den vielen Teppichen und weichen Sesseln…
*
An den Moment, wo die Abdankung unterschrieben wurde, kann ich mich nicht mehr erinnern… Ich weiß nicht mehr, wie das im Einzelnen gewesen ist. Erinnern kann ich mich aus irgendwelchem Grunde einzig daran, daß Nabokov zum Andenken die Feder mitnahm, mit welcher Michail Alexandrowitsch die Abdankung unterschrieben hatte.

Wassili Schulgin: Tage

♦♦♦

All dies geschah zur Zeit des ersten Weltkriegs: Russland befand sich im Kriegszustand. Die offizielle Devise der provisorischen Regierung bezüglich Kriegsführung lautete: Krieg bis zum siegreichen Ende.

Nabokov – der Vater also, Wladimir Dmitrijewitsch – war der Überzeugung, daß eine der Hauptursachen der Revolution in der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung liegt und in dem allgemeinen Widerwillen gegen die Weiterführung des Krieges.

Im Frühjahr versuchte er, Miljukow davon zu überzeugen, daß der nun schon drei Jahre währende Krieg dem russischen Volk fremd und unverständlich ist; daß man sich dem Kriegszustand nur widerwillig fügt, weil man gezwungen ist, ohne daß man eine Ahnung habe von irgendwelcher Bedeutung, irgendwelchen Zielen dieses Krieges. Die Bevölkerung sei kriegsmüde, und die begeisterte Zustimmung für das Revolutionsgeschehen sei unübersehbar von der Hoffnung getragen worden, daß dies zu einer schnellen Beendigung des Krieges führt.

Im August schließlich kam Nabokow zu dem Schluß, daß die provisorische Regierung nicht fähig ist, das Land aus der Krise zu führen.

An dieser Stelle sei noch ein Zitat eingefügt über das Zustandekommen dieser Provisorischen Regierung (einen längeren Textauszug aus Schulgins Memoiren, der auch dieses Zitat enthält, findet man – russischer Originaltext mit deutscher Übersetzung – unter dem Titel „Die Zusammenstellung der Provisorischen Regierung“ als PDF).

Aus den Memoiren von Wassili Schulgin also, der persönlich dabei war:

***

Und plötzlich tauchte in dieser Ministerliste aus unbekannten Gründen Terechtchenko auf.
Michail Iwanowitsch Terechtchenko war sehr lieb, hatte in Europa studiert, konnte mit großem Geschick ein Auto steuern, und wirkte insgesamt viel dandyhafter als all diese aristokratischen Advokaten. In der letzten Zeit „interessierte er sich sehr für die Revolution“ und war irgendwie tätig im Komitee für Kriegsindustrie. Außerdem war er sehr reich.
Doch warum, aufgrund welcher Gnade, soll er Finanzminister werden?
Nun, dies geschah aus dem einfachen Grunde, weil Gott uns strafte für unsere unsinnige Starrköpfigkeit. Wenn die frühere Staatsmacht zum Untergang verurteilt war, weil sie festhielt an ihren Stürmern und sonstigen unfähigen Ministergestalten, so waren auch wir nicht zu retten, da wir den Verstand verloren hatten und das ganze Land um den Verstand brachten mit unserem Mythos von irgendwelchen „das Vertrauen der Bevölkerung genießenden“ genialen Persönlichkeiten, die in Wirklichkeit in unseren Reihen gar nicht vorhanden waren… Was nun diesen sehr lieben, sehr netten Michail Iwanowitsch betrifft, der damals, wenn ich mich nicht täusche, grad mal 32 Jahre alt war – was soll das für ein allgemeines gesellschaftliches Vertrauen gewesen sein, welches ihm die Fähigkeit zugesprochen hätte für den Posten des Finanzministers in einem riesigen, in einen Weltkrieg verwickelten Land mitten in unüberschaubarem Revolutionsgeschehen?
In der Ecke des Tisches, in diesem wilden Wirbel halbwahnsinniger Menschen, wurde in Miljukows Kopf diese Ministerliste geboren; wobei dieser Kopf mit beiden Händen gehalten werden mußte, damit er wenigstens halbwegs urteilsfähig blieb. Künftige Historiker, und auch Miljukow selbst, werden das vermutlich ganz anders darstellen: daß nämlich diese Liste zustandekam als Frucht reiflicher Überlegungen und als Resultat „des Zusammenwirkens der realen Kräfte“. Ich aber erzähle einfach so, wie es war.

Wassili Schulgin: Tage

♦♦♦

Die provisorische Regierung schaffte es denn auch nicht, das Land aus der Krise zu führen. Immer verworrener wurde das Durcheinander und zunehmend bedrohlicher. Der Versuch von General Kornilow, die Lage auf militärischem Wege in den Griff zu bekommen, mißlang. Miljukow verließ Petersburg, brachte sich auf der Krim in Sicherheit.

Nabokow hielt die Stellung, nahm, so gut es ging, aktiv Anteil am Geschehen, und während der Endphase der provisorischen Regierung war er faktisch Vorsitzender des Zentralkomitees.

Nach dem Oktoberumsturz engagierte er sich in der Stadtduma, und hier insbesondere im Komitee zur Rettung der Heimat und der Revolution. Doch das währte nicht lange.

In seinen eigenen Worten:

***

Leider konnte man sich höchstens während der ersten Tage noch der Illusion hingeben, als könne die Stadtduma und das Rettungskomitee ein Zentrum bilden, um den Bolschewiken organisierten Widerstand zu bieten. Sehr schnell wurde deutlich, daß man über keinerlei Kräfte verfügt, um solches zu organisieren.

(Wladimir Dmitijewitsch Nabokow)

♦♦♦

Am 23. November wurde aufgrund eines Dekrets des bolschewistischen „Rats der Volkskommissare“ die Kommission aufgelöst und ihre Mitglieder, darunter auch Nabokow, verhaftet. Am 28. November wurde er freigelassen.

Am Morgen des 29. September las Nabokow ein Dekret, welches die „Kadetten“, das heißt die Partei der konstitutionellen Demokraten, für illegal erklärte und befahl, ihre Führer zu verhaften.

Am Abend des gleichen Tages reiste er ab auf die Krim, um sich dort mit seiner bereits vorher abgereisten Familie zu treffen.

Hier der Bericht seines Sohnes Wladimir, wie er zusammen mit seinem Bruder von Petersburg auf die Krim reiste.

Aus der Autobiographie von Wladimir Wladimirowitsch Nabokow also:

***

In der amerikanischen Version dieses Buches mußte ich dem staunenden Leser erklären, daß die Zeit des Blutvergießens, der Konzentrationslager und der Geiselnahmen unmittelbar begann mit der Machtergreifung durch Lenin und seine Helfer. Im Winter 1917 glaubte die Demokratie noch, die bolschewistische Diktatur ließe sich vermeiden. Mein Vater war entschlossen, so lange als möglich sich in Petersburg zu halten. Seine Familie schickte er allerdings auf die noch bewohnbare Krim.

Wir reisten in zwei Gruppen; mein Bruder und ich unabhängig von meiner Mutter mit den drei jüngsten Kindern. 18 Jahre alt war ich damals. In beschleunigtem Verfahren legte ich einen Monat vor dem formell vorgegebenen Termin die Abschlußexamina ab, ging davon aus, daß ich in England mein Studium zum Abschluß bringe und anschließend eine entomologische Expedition in die westchinesischen Gebirge organisiere: alles sehr einfach und wahrscheinlich; und vieles konnte ja tatsächlich realisiert werden.

Die recht lange Reise nach Simferopol begann in einer noch recht annehmbaren Atmosphäre; der Erste-Klasse-Waggon war gut beheizt, die Lampen waren noch ganz, im Gang stand eine Schauspielerin und trommelte gegen die Scheibe, und ich hatte eine Menge weißer Hefte mit Gedichten dabei, die das ganze Spektrum der damaligen Titel umfaßten, von der einfachen „Nocturne“ bis zum raffinierten „Neuschnee“.

Irgendwo in der Mitte Rußlands ging die Stimmung kaputt: in unseren Zug, und auch in unseren Schlafwagen, drängten sich irgendwelche Soldaten, die von irgendeiner Front nach Hause fuhren. Aus unerfindlichen Gründen fanden mein Bruder und ich es lustig, uns in unserem Abteil einzuschließen und niemanden hereinzulassen. Die Soldaten ließen nicht locker; und einige kraxelten auf das Dach und versuchten – nicht ohne gewissen Erfolg – den Ventilator unseres Abteils als Toilette zu benutzen. Als das Türschloß schließlich in die Brüche ging, spielte Sergei, der über schauspielerisches Talent verfügte, den Typhuskranken, und man ließ uns in Ruhe.

Im Morgengrauen des – wenn ich mich nicht täusche – dritten Tages nutzte ich einen Halt, um frische Luft zu schnappen. Es war nicht einfach, sich im Gang über Arme, Köpfe und Beine der den Boden bevölkernden Schlafenden dahinzubewegen. Weißlicher Nebel lag über dem Bahnsteig eines namenlosen Bahnhofs. Irgendwo in der Nähe von Charkow war das. Ich trug – was rückblickend recht komisch wirkt – einen Melone-Hut und weiße Gamaschen, und in der Hand hielt ich einen Spazierstock aus der Sammlung meines Urgroßvaters. Ein Stock war das aus herrlich hellem fleckigem Holz, mit rundem Korallenknauf in goldener kronenförmiger Fassung. Ich geb‘s ehrlich zu: wäre ich selbst an der Stelle eines dieser tragischen Vagabunden in Soldatenuniform gewesen, so hätte ich der Versuchung nicht widerstehen können, diesen über den Bahnsteig stolzierenden Snob zu packen und umzubringen.

Kaum hatte ich angesetzt, in den Waggon zurückzuklettern, als der Zug anfuhr. Durch den Ruck entglitt der Spazierstock meiner Hand und fiel unter den anfahrenden Zug. Besonders wichtig war er mir nicht (und fünf Jahre später, in Berlin, verlor ich ihn einfach so); doch aus den Fenstern schaute man mir zu, und das Feuer jugendlicher Eitelkeit brachte mich dazu, etwas zu tun, wozu ich mich heute nimmer entschließen könnte: Ich ließ den Waggon vorbei, dann den nächsten, den dritten, den vierten, den ganzen Zug (die russischen Züge nahmen bekanntlich nur sehr langsam Fahrt auf); und als endlich die Schienen frei waren, hob ich den auf der Erde liegenden Spazierstock auf und lief los, um die wie in einem Alptraum immer kleiner werdenden Puffer einzuholen. Ein kräftiger proletarischer Arm half mir, ganz im Sinne gefühlvoller Romane, aber im Widerstreit mit den Einflüsterungen des Marxismus, mich auf die Plattform des letzten Waggons hochzuhangeln.

Другие берега, XI, 3

♦♦♦

Auf der Krim konnte man sich eine Weile halten; es gab sogar eine eigene Regionalregierung, in welcher Wladimir Dmitrijewitsch, der Vater also, ab 15. November 1918 Justizminister war.

Im April 1919 verließ die Familie das russische Territorium. In London gab Wladimir Dmitrijewitsch zusammen mit Miljukow die Zeitschrift „New Russia“ heraus.

1920 zogen sie um nach Berlin.

Am 22. März 1922 wurde in Berlin während einer Veranstaltung auf Miljukow ein Attentat verübt. Miljukow blieb unverletzt; doch Wladimir Dmitrijewitsch, der Vater des Dichters, der beherzt eingriff, um die Attentäter unschädlich zu machen, bezahlte sein Eingreifen mit dem Leben.

Nachfolgendes Gedicht von Wladimir Nabokow trägt die Widmung: „Zum Tod meines Vaters“

***

Ostern

(zum Tod des Vaters)

Ich sehe Wolken klar am Himmel leuchten; Dächer

in fernem hellem Glanze, spiegelgleich… Ich höre

des Tages Atem, tropfend Licht…

Doch warum bist du fort? Bist tot. Und wo doch heute

die feuchte Erde leuchtet, kündend Gottes Frühling,

der wächst und ruft… Und du bist fort…

*

Wenn Bäche nun, befreit, das Wunder froh besingen,

wenn Goldglanz und Geläut der Tropfen alten Eises

nicht bloßes Blendwerk sind und Trug,

doch dafür froher Ruf zum Auferstehungsfest,

ein Lied zum Auferblühen – Du bist drin im Liede,

in diesem Glanze wirkst du, lebst!

***

(Deutsche Nachdichtung: R. Zoller) – Ein PDF mit russischem Original und deutscher Nachdichtung kann man hier herunterladen)

♦♦♦

Später erleben wir den jungen Nabokow, der den Segnungen des Sowjetregimes glücklich entflohen ist, in Gesellschaft über diese Segnungen wohl informierter westlicher Kreise.

Eine Situation, wie man sie heute ähnlich erlebt mit wohl informierten westlichen Kreisen. Über Rußland haben sie irgendwas gehört, irgendwas gelesen; von irgendwoher haben sie irgendeine Sympathie oder Antipathie; und aufnehmen tun sie nur das, was dieser Sympathie oder Antipathie entspricht; und was sich im Sinne ihrer Vorlieben zurechtbiegen läßt, biegen sie zurecht. Und je ignoranter sie sind, desto fanatischer.

Es ist ja klar, daß man bei Ereignissen, bei denen man nicht selbst dabei war, auf mündliche und schriftliche Berichte angewiesen ist. Aber wenn man den Unterschied nicht kennt zwischen Propaganda und Information, wenn man es nicht schafft, seine Sympathien und Antipathien aus dem Spiel zu lassen, nicht versucht, sich von möglichst vielen Seiten her zu informieren; wenn man nicht unterscheiden kann, wo man versteht und wo man nicht versteht – nun, da kann man halt nicht mitreden. – Aber eben solche reden ganz besonders eifrig mit.

Nabokov also nach der Oktoberrevolution im Kreise alles über Rußland wissender westlicher Persönlichkeiten:

***

Die Zustimmung fortschrittlicher amerikanischer und englischer Kreise für den Bolschewismus hing zu Lenins Zeiten, wie es heißt, mit innenpolitischen Erwägungen zusammen. Mir aber scheint, daß dem in erheblichem Maße elementare Ignoranz zugrundelag. Das Wenige, was mein Freund Bomston und seine Freunde über Rußland wußten, kam in den Westen aus trüben kommunistischen Quellen. Wenn ich den hochhumanen Bomston fragte, wie er den von Lenin eingeführten widerlichen Terror rechtfertigen will, all die Folterungen, Erschießungen und den sonstigen blutigen Wahnsinn – klopfte Bomston am Herd seine Pfeife aus, veränderte die Position seiner gewaltigen übereinandergeschlagenen Beine und verkündete, daß ohne die Blockade der Verbündeten es auch keinen Terror gäbe. Alle russischen Emigranten, all die Feinde der Sowjets, vom Menschewiken bis zum Monarchisten, warf er seelenruhig in die Schublade der „zarenfreundlichen Elemente“ und behauptete, ganz egal, was ich ihm sagte, daß Fürst Lwow ein Verwandter des Zaren ist, und Miljukow ein ehemaliger Minister aus der Zarenregierung. Und nie kam ihm in den Sinn, daß, wenn er und die sonstigen westlichen Idealisten in Rußland lebende Russen wären, das Lenin-Regime sie sofort vernichten würde.

Другие берега, XII, 2

♦♦♦

Und nochmal im Kreise der gleichen Leute Ende der dreißiger Jahre nach den Stalinschen Säuberungsaktionen.

***

Ende der dreißiger Jahre schimpften die einstigen Bolschewismus-Anhänger unter den westlichen Ästheten auf Stalin (den sie dann im Weiteren, während des zweiten Weltkriegs, wieder verehrten). Seinerzeit, Anfang der zwanziger Jahre, hielt Bomston in seiner Ignoranz den eigenen exaltierten Idealismus für einen romantischen humanitären Zug in dem widerwärtigen, widermenschlichen Leninschen Regime. Und nun, während dem nicht minder widerwärtigen Stalin-Regime, irrte er sich wieder, da er die quantitative Erweiterung seiner Information verwechselte mit einer qualitativen Verschlechterung in der sowjetischen Entwicklung. Das Gewitter der „Säuberungen“, welche die „alten Bolschewiken“, die Helden seiner Jugend, erfaßt hatte, erschütterte Bomston bis auf den Grund seiner Seele. Was in seiner Jugend, während des Lenin-Regimes, kein Stöhnen von den Solovki oder aus der Ljubljanka geschafft hätte. Mit Entsetzen und Abscheu sprach er die Namen aus von Jeshov und Jagoda und erinnerte sich dabei nicht im Geringsten an deren Vorgänger Urizki und Dsershinski.

Другие берега, XII, 5

Raymond Zoller