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Wladimir Wladimirowitsch Nabokov wurde am 22. April 1899 in Petersburg geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er teils in Petersburg, teils auf Landgütern in der Umgebung, teils auch auf Auslandsreisen. Sein Großvater väterlicherseits war Justizminister; sein Vater, gleichfalls Jurist, lehrte als Professor an der Akademie für Rechtskunde und war zudem Kammerjunker am Zarenhof.
Kurz vor seinem 18. Geburtstag begannen in Petersburg jene Unruhen, die schließlich zur sogenannten Februarrevolution auswuchsen und somit die Grundlage schufen für die Oktoberrevolution, welche ihn und seine Familie in die Emigration zwang.
Anhand von Zitaten aus seiner Autobiographie lassen wir im Weiteren Wladimir Nabokov selbst erzählen. – Autobiographien hat er mehrere geschrieben; in unterschiedlichen Sprachen für Leser mit unterschiedlichem Hintergrund. Solches war ihm möglich, da er – wie in wohlhabenden Familien vor der Revolution häufig der Fall – mehrsprachig aufwuchs, mit französischen und englischen Privatlehrern; und bei Nabokov entwickelte sich diese Mehrsprachigkeit bis ins Literarische hinein.
Wir nahmen die Biographie, die er in russisch für seine russischen Landsleute geschrieben hat, und haben einige Stellen, die uns in unserem Zusammenhang interessant schienen, ins Deutsche übersetzt.
Wenn man diese Autobiographie liest, so staunt man über die Präzision, mit welcher er jedes kleinste Detail seiner Erlebnisse in früher Kindheit und Jugend wiedergibt.
Auf den ersten Seiten ebenjener Autobiographie äußert er sich zu diesem umfassenden Erinnerungsvermögen. Er meint, daß er damit nicht alleine ist und daß man solches Vermögen bei vielen Landsleuten seiner Generation antreffen kann:
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Beginnen wir mit einer Schilderung aus dem Leben aufgeklärter russischer Aristokraten im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts:
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Und nun erleben wir ihn, wie er während dieses merkwürdigen ersten Jahrzehnts in der Petersburger Wohnung seiner Eltern abends zum Fenster hinausschaut und auf seinen meist sich verspätenden Englischlehrer wartet: Mit kurzer Vorschau auf das, was er zehn Jahre später, an diesem gleichen Fenster stehend, zu sehen bekommt:
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Und nun eine Reise nach Paris im Jahre 1909, mit kurzer Vorschau auf das spätere Schicksal des sie begleitenden Kammerdieners Ossip
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Und nun eine Schilderung von Nabokows Großmutter, der Mutter des Vaters, wie sie sich über ihren aus der Art geschlagenen Sohn in kummervollem Grame grämt.
Zur Zeit von Nabokows Geburt war sein Vater Professor und Kammerjunker. Später war er dann weder Professor noch Kammerjunker, da man ihm im Jahre 1905 aufgrund seines politischen Engagements diese Titel aberkannte.
Auf Nabokows Vater kommen wir noch zu sprechen. Hören wir uns erst mal an, wie Nabokov seine Großmutter beschreibt:
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In spitzenbesetzten Armstulpen, in prunkvollem seidenem Peignoir, mit schwarzem, in seiner plastischen Rundung wie eine Fliege aussehendem Muttermal auf der rosigen Wange, wirkte sie wie eine stilisierte Figur in einem historischen Museum; und wie ein ebensolches Exponat wirkte ihr himmelblaues Sofa, auf dem sie den ganzen Tag, sich mit ihrem Elfenbeinfächer bewedelnd und runde Hustenbonbons lutschend, zu liegen pflegte und unablässig sich beklagte, daß irgendwelche finstere Mächte den liebsten ihrer Söhne verhext haben und ihn von einer glänzenden Beamtenlaufbahn abhalten. Vor allem konnte sie nicht verstehen, wie mein Vater, der doch so sehr Genüsse schätzt, welche nur bei sehr großem Reichtum zugänglich sind, seinen Reichtum aufs Spiel setzen kann, indem er zum Liberalen wird, das heißt zum Wegbereiter der Revolution, welche (wie sie ganz richtig voraussah) ihn letztendlich in die Armut treiben wird.♦♦♦
Kommen wir nun zu Nabokows Vater, welcher also die Genüsse schätzte, welche nur bei sehr großem Reichtum zugänglich sind, und der seinen Reichtum aufs Spiel setzte, indem er zum Liberalen wurde.
Obwohl in den bestehenden Verhältnissen wohl etabliert als Kammerjunker und als Professor der Jurisprudenz, widmete er sich politischem Engagement, welches sich außerhalb der etablierten Kreise bewegte.
Schon während seiner Studentenzeit neigte er zu nicht konformem Verhalten und zeigte dabei Originalität und Charakterstärke. 1890 wurde er wegen Teilnahme an einer Studentendemonstration verhaftet und ins Gefängnis, die „Kresty“, gesperrt. Da er aber der Sohn eines ehemaligen Justizministers war, wollte die Gefängnisleitung ihn freilassen; doch Wladimir weigerte sich, ohne seine Freunde das Gefängnis zu verlassen; und so blieb nichts anderes übrig, als alle freizulassen.
1904, zur Zeit des russisch-japanischen Krieges, weigerte er sich, einen Toast auf die Gesundheit des Zaren zu erheben. Und wie ihm schließlich wegen der verschiedensten kleineren und größeren Verfehlungen die Kammerjunker-Würde aberkannt wurde, bot er seelenruhig in Zeitungsanzeigen seine Kammerjunker-Uniform zum Verkauf an.
Seit 1904 war er zentral beteiligt an der Schaffung einer „Konstitutionell-Demokratischen Partei“, abgekürzt KD, und von daher die gängige Bezeichnung „Kadety“, „Kadetten“. 1906 wurde er in Zusammenhang mit dieser Kadettenpartei in die erste Duma, das erste russische Parlament gewählt.
Wie in Parteien üblich, gab es auch bei den „Kadetten“ Leute mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten und Triebfedern, vom stumpfsinnigen Karrieristen bis zum hochintelligenten Idealisten, und dazwischen alle möglichen Mischformen. Und wie bei Parteien von jeher üblich, wird der Kampf mit anderen Parteien, darunter auch mit der Staatsmacht, sehr leicht zu Gewohnheit und Selbstzweck. Wenn man sich die verschiedenen Biographien und Autobiographien und Schilderungen der Umstände zu Gemüte führt, gewinnt man den Eindruck, daß die Kadetten hier keine Ausnahme machten; daß Nabokov – der Vater also unseres Dichters – sich durch Fähigkeiten und Gesinnung wohltuend hervortat, und daß er trotzdem der Routine des Machtkampfes gelegentlich zum Opfer fiel und dreinschlug, wo es sinnvoller gewesen wäre, miteinander zu reden.
Auch in der Regierung gab es, wie oft in Regierungen, ein Spektrum der unterschiedlichsten Fähigkeiten und Gesinnungen, vom stumpfsinnigen Karrieristen bis hin zum klardenkenden Idealisten. In der damaligen Regierung gab es gute Leute, die nur zu gern mit guten Leuten aus der „Opposition“ konstruktiv zusammengearbeitet hätten.
Und auch der Zar selbst war keineswegs ein Unmensch. Wenn man seine Tagebücher durchliest, sich verschiedene Umstände vergegenwärtigt, in denen er handelte oder hätte handeln sollen, bekommt man den Eindruck, daß das ein hochanständiger treusorgender Familienvater war, der nur das Pech hatte, in eine Position hineingeboren zu werden, welcher er partout nicht gewachsen war. Und weil er seiner Position nicht gewachsen war, wurde er zum Spielball der Hofintrigen; was sich zuungunsten der fähigen Leute und somit auch des Wohles der Bevölkerung auswirkte, da fähige Leute meist weniger an Intrigen interessiert sind denn an ihrer Arbeit und dadurch – da sie den professionellen Intriganten sowieso meist im Wege sind – am ehesten den Hofintrigen zum Opfer fallen.
Als im Frühjahr 1906 das erste russische Parlament, oder, wie man das auf Russisch nennt, die erste Duma eröffnet wurde, war Nabokows Vater als sehr aktiver Deputierter mit dabei. Schon ein paar Monate später wurde diese Duma – unter dem Vorwurf, daß man, statt sich konstruktiv mit Fragen der Gesetzgebung zu beschäftigen, aufrührerische Aufrufe an die Bevölkerung verfasst und sich massiv in Dinge einmischt, die nicht in die Zuständigkeit der Duma fallen – durch einen Zarenerlass wieder aufgelöst. Die ganzen Dumadeputierten hatten über Nacht ihren ehrenvollen Titel verloren; und eine größere Gruppe von ihnen fuhr stracks nach Wyborg, um gemeinsam zu überlegen, was nun zu tun sei. Darunter auch Nabokows Vater. – In Wyborg verfasste man dann den sogenannten „Wyborger Aufruf“, darin man die Bevölkerung aufrief, einer Regierung, die es gewagt hat, das Parlament aufzulösen, keine Steuern mehr zu zahlen und keine Soldaten zu geben. – Der Aufruf verhallte ohne jede Folgen; und auch die Staatsmacht schenkte ihm zunächst weiter keine Beachtung; aber irgendwann beschloss man denn doch, die Unterzeichnenden zur Rechenschaft zu ziehen.
In diesem Zusammenhang ein kurzes Zitat aus der Autobiographie unseres Wladimir Wladimirowitsch Nabokow:
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Ab Juli 1914 war Nabokows Vater in der Armee. Er vertrat die Ansicht, daß er aufgrund seiner Position zur Zeit des Krieges sich von Partei und Politik fernzuhalten hat, und verhielt sich zum politischen Geschehen als neutraler Beobachter.
In den Anfängen jener Februarunruhen, mit denen die Staatsmacht nicht fertig wurde und bei denen die Bevölkerung glaubte, die Duma habe die Macht übernommen, während man in der Duma auch nicht so recht wußte, was los ist, wurde Hals über Kopf die provisorische Regierung gebildet.
Nabokows Vater gab seinen Posten beim Militär auf, beteiligte sich am Aufbau einer neuen Staatsmacht und wurde schließlich zum Regierungssekretär ernannt.
Im Nachfolgenden ein Zitat, wo er erwähnt wird. Diesmal nicht aus den Memoiren seines Sohnes, sondern aus den gleichfalls sehr lesenswerten Memoiren von Wassilij Schulgin, der das alles hautnah als aktiv Beteiligter miterlebt hat
Wassili Schulgin ist derjenige, der, zusammen mit Alexander Gutschkow, die Abdankung des Zaren entgegengenommen hat. Ursprünglich hatte die Absicht bestanden, zumindest vorerst die Monarchie aufrechtzuerhalten und als Thronfolger, wie es sich gehört, Alexei, den minderjährigen Sohn der Zarenfamilie, einzusetzen. Doch Nikolai, als treusorgender Familienvater, wollte seinen gesundheitlich schwachen Sohn nicht diesen politischen Mühlen überlassen und legte Wert darauf, daß man als Thronfolger seinen Bruder Michail einsetzt.
In diesem Sinne wurde dann auch die Abdankung unterschrieben.
Im Weiteren betrachtete man es als sinnvoll, daß auch Michail auf den Thron verzichtet; und auch er selbst hatte keine allzugroße Lust, Zar zu werden. So kam es denn zur Unterzeichnung einer Thronverzichtserklärung, bei deren Erstellung und Unterzeichnung Nabokows Vater zugegen war.
Die erwähnten Njekrassow und Kerenskij sind Mitglieder der provisorischen Regierung.
Aus den Memoiren von Wassili Schulgin also:
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Njekrassow zeigte mir seinen Entwurf des Thronverzicht-Aktes. Doch der war unbrauchbar. Wenn ich mich recht erinnere, bekamen Njekrassow, Kerenskij und ich den Auftrag, ihn zu verbessern. ♦♦♦
All dies geschah zur Zeit des ersten Weltkriegs: Russland befand sich im Kriegszustand. Die offizielle Devise der provisorischen Regierung bezüglich Kriegsführung lautete: Krieg bis zum siegreichen Ende.
Nabokov – der Vater also, Wladimir Dmitrijewitsch – war der Überzeugung, daß eine der Hauptursachen der Revolution in der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung liegt und in dem allgemeinen Widerwillen gegen die Weiterführung des Krieges.
Im Frühjahr versuchte er, Miljukow davon zu überzeugen, daß der nun schon drei Jahre währende Krieg dem russischen Volk fremd und unverständlich ist; daß man sich dem Kriegszustand nur widerwillig fügt, weil man gezwungen ist, ohne daß man eine Ahnung habe von irgendwelcher Bedeutung, irgendwelchen Zielen dieses Krieges. Die Bevölkerung sei kriegsmüde, und die begeisterte Zustimmung für das Revolutionsgeschehen sei unübersehbar von der Hoffnung getragen worden, daß dies zu einer schnellen Beendigung des Krieges führt.
Im August schließlich kam Nabokow zu dem Schluß, daß die provisorische Regierung nicht fähig ist, das Land aus der Krise zu führen.
An dieser Stelle sei noch ein Zitat eingefügt über das Zustandekommen dieser Provisorischen Regierung (einen längeren Textauszug aus Schulgins Memoiren, der auch dieses Zitat enthält, findet man – russischer Originaltext mit deutscher Übersetzung – unter dem Titel „Die Zusammenstellung der Provisorischen Regierung“ als PDF).
Aus den Memoiren von Wassili Schulgin also, der persönlich dabei war:
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Die provisorische Regierung schaffte es denn auch nicht, das Land aus der Krise zu führen. Immer verworrener wurde das Durcheinander und zunehmend bedrohlicher. Der Versuch von General Kornilow, die Lage auf militärischem Wege in den Griff zu bekommen, mißlang. Miljukow verließ Petersburg, brachte sich auf der Krim in Sicherheit.
Nabokow hielt die Stellung, nahm, so gut es ging, aktiv Anteil am Geschehen, und während der Endphase der provisorischen Regierung war er faktisch Vorsitzender des Zentralkomitees.
Nach dem Oktoberumsturz engagierte er sich in der Stadtduma, und hier insbesondere im Komitee zur Rettung der Heimat und der Revolution. Doch das währte nicht lange.
In seinen eigenen Worten:
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Am 23. November wurde aufgrund eines Dekrets des bolschewistischen „Rats der Volkskommissare“ die Kommission aufgelöst und ihre Mitglieder, darunter auch Nabokow, verhaftet. Am 28. November wurde er freigelassen.
Am Morgen des 29. September las Nabokow ein Dekret, welches die „Kadetten“, das heißt die Partei der konstitutionellen Demokraten, für illegal erklärte und befahl, ihre Führer zu verhaften.
Am Abend des gleichen Tages reiste er ab auf die Krim, um sich dort mit seiner bereits vorher abgereisten Familie zu treffen.
Hier der Bericht seines Sohnes Wladimir, wie er zusammen mit seinem Bruder von Petersburg auf die Krim reiste.
Aus der Autobiographie von Wladimir Wladimirowitsch Nabokow also:
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Auf der Krim konnte man sich eine Weile halten; es gab sogar eine eigene Regionalregierung, in welcher Wladimir Dmitrijewitsch, der Vater also, ab 15. November 1918 Justizminister war.
Im April 1919 verließ die Familie das russische Territorium. In London gab Wladimir Dmitrijewitsch zusammen mit Miljukow die Zeitschrift „New Russia“ heraus.
1920 zogen sie um nach Berlin.
Am 22. März 1922 wurde in Berlin während einer Veranstaltung auf Miljukow ein Attentat verübt. Miljukow blieb unverletzt; doch Wladimir Dmitrijewitsch, der Vater des Dichters, der beherzt eingriff, um die Attentäter unschädlich zu machen, bezahlte sein Eingreifen mit dem Leben.
Nachfolgendes Gedicht von Wladimir Nabokow trägt die Widmung: „Zum Tod meines Vaters“
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(zum Tod des Vaters)
Ich sehe Wolken klar am Himmel leuchten; Dächer
in fernem hellem Glanze, spiegelgleich… Ich höre
des Tages Atem, tropfend Licht…
Doch warum bist du fort? Bist tot. Und wo doch heute
die feuchte Erde leuchtet, kündend Gottes Frühling,
der wächst und ruft… Und du bist fort…
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Wenn Bäche nun, befreit, das Wunder froh besingen,
wenn Goldglanz und Geläut der Tropfen alten Eises
nicht bloßes Blendwerk sind und Trug,
doch dafür froher Ruf zum Auferstehungsfest,
ein Lied zum Auferblühen – Du bist drin im Liede,
in diesem Glanze wirkst du, lebst!
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(Deutsche Nachdichtung: R. Zoller) – Ein PDF mit russischem Original und deutscher Nachdichtung kann man hier herunterladen)
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Später erleben wir den jungen Nabokow, der den Segnungen des Sowjetregimes glücklich entflohen ist, in Gesellschaft über diese Segnungen wohl informierter westlicher Kreise.
Eine Situation, wie man sie heute ähnlich erlebt mit wohl informierten westlichen Kreisen. Über Rußland haben sie irgendwas gehört, irgendwas gelesen; von irgendwoher haben sie irgendeine Sympathie oder Antipathie; und aufnehmen tun sie nur das, was dieser Sympathie oder Antipathie entspricht; und was sich im Sinne ihrer Vorlieben zurechtbiegen läßt, biegen sie zurecht. Und je ignoranter sie sind, desto fanatischer.
Es ist ja klar, daß man bei Ereignissen, bei denen man nicht selbst dabei war, auf mündliche und schriftliche Berichte angewiesen ist. Aber wenn man den Unterschied nicht kennt zwischen Propaganda und Information, wenn man es nicht schafft, seine Sympathien und Antipathien aus dem Spiel zu lassen, nicht versucht, sich von möglichst vielen Seiten her zu informieren; wenn man nicht unterscheiden kann, wo man versteht und wo man nicht versteht – nun, da kann man halt nicht mitreden. – Aber eben solche reden ganz besonders eifrig mit.
Nabokov also nach der Oktoberrevolution im Kreise alles über Rußland wissender westlicher Persönlichkeiten:
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Und nochmal im Kreise der gleichen Leute Ende der dreißiger Jahre nach den Stalinschen Säuberungsaktionen.
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