Die Klamurke Notizen von unterwegs

Aus Briefen

Zwischenfliege

Konditionierungen

Ende Oktober 2022

… ja, ich leb noch immer „ohne Netz“; geht nicht anders; und bis zu meinem Umzug in „geistige Welten“ wird sich daran kaum was ändern…

Wenn du schreibst, daß du „erst sehr langsam bestimmte Konditionierungen abstreifst“, so bedeutet das, daß du die Konditionierungen siehst und sie, ob langsam oder schnell, überwindest. Normal. Problem ist, daß viele unserer Zeitgenossen von ihren Konditionierungen gar nichts merken und unbekümmert durch Gewohnheiten und Meinungsmache sich dahintreiben lassen. Hinein in die kaum noch abwendbare Katastrophe…

Auch ich selbst muß unablässig um Klarheit kämpfen; ist nun mal so.

[…]

Man geht einfach frei kämpfend seinen Weg, in freier Gemeinschaft mit anderen frei kämpfenden.

Zur aktuellen Lage

(aus einem im Oktober 2022 geschriebenen Brief)

es wird immer lustiger… Dank Messenger-Unterhaltungen mit Freunden aus verstärkten Krisengebieten krieg ich manches hautnah mit, was in unserer zivilisierten Welt so vor sich geht. (im Grunde ist die ganze sogenannte „zivilisierte“ Welt mit ihren größtenteils schlafwandelnden Menschen ein Krisengebiet).

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Georgien wird zurzeit überschwemmt von betuchten russischen Deserteuren, die sich der Teilmobilisierung entziehen. Sie können problemlos höhere Mieten zahlen als die Einheimischen oder gleich Wohnungen kaufen; was dazu führt, daß so manche Einheimische auf der Straße landen.

Russische Kapitalisten sind zum Teil schlimmer als westliche. Ich habe ja diese Entwicklung aus der Nähe miterlebt. Nach der Auflösung der Sowjetunion schaute man gen Westen, um zu sehen, wie man das nun am besten machen soll; und da der Westen keinerlei Kultur entwickelt hat, sondern nur Mist, floss dieser ganze moralische Mist nach Russland, wo er begierig aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. In den wilden postsowjetischen neunziger Jahren war Russland für den, der zu sehen verstand, eine Karikatur der vermurxten westlichen Moral.

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Berichte aus Georgien erhalte ich vor allem von Inga […]. Ihr geht es jetzt ganz besonders dreckig; viel dreckiger als mir. Ohne ihr Verschulden im Alter von 14 Jahren nach einer Vergewaltigung ins Kriminellenmilieu abgeschoben, wo sie im Laufe der Zeit zwei Kinder zur Welt brachte, und von dem sie sich unter großen Mühen trennen konnte. Wie sie sich da im Alleingang herauswurschtelte ist eine beachtliche Leistung.

Ihr hochkrimineller Ex-Mann wurde anno 2013 von dreien seiner Kollegen erschossen. In der Georgischen Provinz, im Hofe seines Heimathauses. Mit Maschinenpistolen ballerten sie auf ihn los. Mehrere Fenster des Hauses wurden dabei zerschossen; und auch die Fassade des Hauses bekam was ab. Die Polizei fand anschließend über 200 Kugeln; darunter nicht wenige im Körper von Ingas Ex-Mann. In jenem angekratzten Hause lebte und lebt auch Ingas Ex-Schwiegermutter. Der Mann wurde beerdigt, die Fenster repariert; und schließlich zog Ingas Sohn mit seiner Familie dorthin. Ingas Sohn mitsamt Schwiegermutter waren bislang schlecht auf sie zu sprechen, weil sie sich von ihrem angetrauten Ehemann zurückgezogen hatte, und wollten nichts mit ihr zu tun haben.

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Und nun, vor ein paar Wochen, begann eine Fortsetzung. Ingas Sohn wurde von der Polizei gewarnt, daß die drei Ganoven, die seinerzeit seinen Vater umgebracht und sich nach Russland abgesetzt hatten, wieder im Lande sind und sich nun auch an ihm und an Inga rächen wollen (im georgischen Kriminellenmilieu scheint es eine Art Sippenhaft zu geben). Nun gut; die akute gemeinsame Lebensgefahr führte zu einer Versöhnung zwischen Inga und ihrem Sohn. Um jenes Haus, darin Ingas Sohn und ihre Ex-Schwiegermutter leben, schleichen, von den Nachbarn bemerkt, des Nachts irgendwelche Gestalten herum, die ganze Nacht durch tönte aufgeregtes Bellen des Hundes. Jetzt nicht mehr, da der Hund vor ein paar Tagen von irgendwem vergiftet wurde.

Und ich bin der einzige Mensch, mit dem sie sich offen aussprechen und den sie um Rat fragen kann. Ich bin nun, aller Bedrängnis zum Trotz, geistig genügend beweglich, um auch extreme unbekannte Situationen halbwegs verstehen zu können; aber viel helfen kann ich ihr nicht.

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Ansonsten hab ich eine Art Gewissheit: daß ich mich verstärkt um Entwicklung meiner Belletristik kümmern soll, um den „klamurkischen Geist“ in eine belletristische Form zu bringen. So ich dieses Wirrwarr überlebe, werde ich solches wohl tun. Und, wie schon begonnen, ein Lehrbuch „Deutsch für Russen“ und eines „Russisch für Deutsche“. Bin denn mal gespannt, ob ich das noch hinkrieg. Das Potential wäre da und auch genug Ideen.

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Raymond Zoller