[…]
Wenn ich generell so nachgiebig wäre, wie ich in jener Situation[1] vielleicht wirkte, so hätte ich das nicht erreichen können, was ich erreicht habe. Und ich habe einiges erreicht: im Kampf gegen das mich gefesselt haltende „Sosein“. In mühsamen kleinen Scharmützeln, und mit zunehmender innerer Bewegungsfreiheit, und dann immer energischer, zerschlug ich die Tentakeln der mich gefangenhaltenden Idiotie. Hätte ich das nicht geschafft, so wäre ich auch nicht in der Lage gewesen, so locker die am Anfang unserer Bekanntschaft behandelten Fragen zu klären[2].
Die Verwegenheit, die dir aufgefallen ist (und die mit meiner derzeitigen scheinbaren Nachgiebigkeit zu kontrastieren scheint), war zunächst mehr eine innerliche, gedankliche. Aber natürlich äußerte sie sich zunehmend auch in der Lebensführung; anders wäre mein ja recht abenteuerlicher Lebensweg gar nicht möglich. Aber selbst für den Verwegensten gibt es strategische Rückzieher; geht nicht anders. Auch in diesem Fall liegt in gewissem Sinne ein strategischer Rückzieher vor, der zudem völlig harmlos ist; sehr viel harmloser, als es für einen nicht genügend informierten Außenstehenden aussehen mag.
[…]
Aus eigener Beobachtung, eigener Erfahrung weiß ich: wenn man sich bei jedem Schritt mit der Frage abquält, was für einen selbst dabei rausspringt, kommt garantiert nichts rechtes zustande.
[…]
Übrigens bin ich durchaus fähig zu klarem Denken und kann klar unterscheiden zwischen gedanklicher Übersicht und „Bauchgefühl“. Und sogar bin ich meist in der Lage, reale Vorahnungen, reales Gespür von Spinnerei zu unterscheiden. Keineswegs laß ich mich von Instinkten treiben und entscheide jeweils selbst, wo ich mir gestatte, mich von Instinkten in unbekannte Richtung tragen zu lassen.
Mein Innenleben ist umfassender, als du glaubst; aber mit Spinnerei hat das nix zu tun. Spinnerei ist mitunter eher das Schmieden von klar umrissenen Plänen: weil man da nämlich oft unhinterfragte Faktoren als selbstverständlich voraussetzt, die gar nicht so selbstverständlich sind (könnte ich bei Bedarf noch ausführlicher darlegen)
Soviel zu Bauchgefühl, Nachgiebigkeit und Strategie.
[…]
Meine Lockerheit ist nicht aufgesetzt (wenn es so wäre, hättest du es eigentlich merken müssen; bist ja nicht blind). Mag ja sein, daß irgendwo im Hintergrund Trauer oder Verzweiflung wütet; aber die Lockerheit ist echt. Ich entwickelte die in jahrelangem Kampf gegen Dusternis, Ratlosigkeit, Verzweiflung; sie, die Lockerheit, hat einen harten Entwicklungsweg hinter sich; sie ist stark und kann sich behaupten. Und ich kann durchaus in aller Lockerheit auch auf eigenes Unglück herabblicken und sogar komische Züge an meinem Elend entdecken. Kein Problem. Da ich halt sehr „anders“ bin, mußte ich im Laufe der Jahre, von frühester Kindheit an, so einiges an Beleidigungen und Erniedrigungen einstecken. Früher beleidigte und erniedrigte das mich tatsächlich; später merkte ich dann in vielen Fällen, daß der Angriff viel zu dumm ist, als daß er mich treffen könnte. Nur, daß ich halt Leute, die sich solcher Angriffe befleißigten, zunehmend und so weit als möglich auf Distanz hielt.
[…]
1) Bei jener „Situation“ handelt es sich um eine langwährende, zeitweise recht arbeitsintensive Tätigkeit für ein russisches Zentrum. Sehr viel wurde dabei geschrieben und übersetzt; und recht nette Gedichtübersetzungen kamen zustande. Da ich für diese Arbeit nicht bezahlt wurde, war man in meiner Umgebung der Ansicht: Ich werde ausgenutzt und lasse mir das einfach so gefallen. Selbst hatte ich nicht den Eindruck, ausgenutzt zu werden. Ich empfand die Arbeit als wichtig und interessant, kam damit zurecht, brachte meine literarischen Fähigkeiten zu sozial relevantem Einsatz und zur Weiterentwicklung; und fertig. War mein Aufenthalt vor Ort erwünscht, so finanzierte man mir Flug und Hotelaufenthalt; und mehr brauchte ich nicht. Damals verfügte ich auch so über genügend finanzielle Mittel und konnte mir den Luxus erlauben, meine Arbeit nicht zu verkaufen. – Daß Arbeit und Einkommen von Natur aus nicht ganz so selbstverständlich miteinander verbunden sind, wie der brave Bürger das meint, ist mir deutlich; genauso wie mir deutlich ist, daß man in den von braver Bürgerlichkeit getragenen sozialen Strukturen in der Regel gezwungen ist, seine Arbeitskraft (teilweise: sich selbst) zu verkaufen.
2) Unser reger Austausch kam in Gang, als sie mich bat, ihr beim Durchschauen einiger komplizierter privater Probleme behilflich zu sein
Die gestrige Besprechung mit Wladimir fand in einem Strandcafé statt. Ich hatte den Fotoapparat dabei, damit der auch mal wieder an die frische Luft kommt; und statt Katzen und Zwiebeln fotografierte ich zwischendurch ein paar herumschwimmende Schiffe.
Wladimir erzählte mir von einer organisationsfreudigen Bekannten, die manchmal, mitunter ohne es selbst zu merken und ohne selbst daran teilzuhaben, sinnvolle Entwicklungen in Gang bringt, und nun voll im Kirchlichen aufgeht. Vor ein paar Tagen schaute sie in der Kirche vorbei und hatte einen Hund mit. Das gab einen großen Skandal, und die Kirche musste unter gewaltigem Aufwand neu geweiht werden. Sie ist deswegen sehr unglücklich. Stell ich mir lustig vor, wie uniformierte Geistliche, hektisch Weihwasserkessel schwingend, herumlaufen, um die durch den Hund hereingeschleppten bösen Geister zu verjagen.
Eben sie hat, zum Beispiel, ohne es zu merken, eine Entwicklungskette in Gang gebracht, in deren Folge ich mich nun allmählich zum Fotografen entwickle. Ohne sie würde ich nun nicht mit dem Obermonstrum[1] durch komplizierte Objektive Katzen und Zwiebeln fotografieren, sondern hätte immer noch das Monstrum mit seinem Standardobjektiv. Und daß das Monstrum nun bei dir rumliegt ist, unter anderem, auch ihr zu verdanken. Gedenke ihrer und auch ihrer Gewissensbisse, weil wegen ihrem Hund die Kirche neu geweiht werden musste.
Mich bezeichnet Wladimir, unter anderem, als „Terminator“. Auch das kam aufs Tapet. Er sagt, daß ich manchmal so wild und verwegen dreinblicke, daß man Angst bekommt. Während des Gesprächs fotografierte er mich auch ein paarmal und schickte mir anschließend die Fotos. Ich erklärte ihm, daß mein Terminatortum sich rein auf gedanklicher Ebene, im Sinne geistiger Befreiung, austobt, und nach außen hin höchstens noch als Mut zur unkonventionellen Lebensführung. Und daß ich eben diesem „Terminatortum“ es verdanke, daß ich mich aus dem luxemburgischen katholischen Mief, in dem ich aufgewachsen bin, herausretten und mir so halbwegs ein freies Welt- und Menschenverständnis erkämpfen konnte. Ein eher philosophischer Terminator halt. Weiß er ja auch; aber es war lustig, daß das mal zur Sprache kam.
Daß ich ihm zwischendurch unheimlich bin - weiß ich…
Eben meinem Terminatortum verdanke ich auch, daß ich ein gewisses Menschenverständnis entwickeln konnte; daß ich verstehe, wie im Grunde jeder Mensch ein Universum für sich ist; daß nur die Frage ist, wie weit er sein eigenes Universum erschlossen hat, wie frei er sich darin bewegt und wie frei und freilassend er mit seinen „Mituniversen“ zusammenlebt. Eine allgemeingültige Moral kann es da gar nicht geben; was dem einen Heilmittel, kann für einen anderen Gift sein. In dem Maße, wie der Mensch innerlich frei wird, sich und die Welt versteht, wird er auch freilassend und versteht immer besser die ihn umgebenden „Universen“.
All dies und vieles mehr habe ich gelernt durch mein Leben als „philosophischer Terminator“
Hatte wieder das Bedürfnis, dir zu schreiben.
Aber jetzt hör ich besser auf, damit es nicht zuviel wird.
1) Obermonstrum: Korrespondenzinterne Bezeichnung für einen professionellen Fotoapparat, den ich mir im Zuge einer dieser Entwicklungen besorgen musste. Meinen in der Korrespondenz als „Monstrum“ bezeichneten weniger professionellen Apparat schenkte ich bei der Gelegenheit der Empfängerin vorliegenden Briefes
Der Kontakt und ein abwechselnd aufschäumender und wieder abflauender Austausch mit der Empfängerin obiger Briefe kam durch Facebook zustande. Getroffen haben wir uns nie; aber auch auf Distanz war es sehr inspirierend. - Beim Herumsuchen in meinen Notizen stieß ich auf Teile dieses Briefwechsels. Interessant... Werd ich wohl noch aufmerksamer sichten.
Bei unten wiedergegebener Notiz war sie mir in der Nacht im Traume erschienen. Doch auch nach diesem Traume ging es noch längere Zeit, aufschäumend und abflauend, weiter. Inzwischen scheint es aber beendet.
♦♦♦
Soeben aufgestanden. Vorm Aufwachen erlebte ich im Traume X. An einem Bahnhof, vor Abfahrt eines Zuges, den auch sie benutzen sollte. Ich entdeckte sie innerhalb des Bahnhofs in einer Vertiefung, ihre Sachen verteilt, fast häuslich eingerichtet. Keine Spur von abfahrbereit. Weiß nicht einmal, ob ich in diesem Traume, in dem sie unübersehbar den Zug verpasste, mitfahren wollte.