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Es ist nicht so leicht, Wirklichkeit von Täuschung zu unterscheiden. Da muß man schon wirklich im Ernste und mit allem guten Willen ins Leben hinein wollen, nicht bei Programmen und bei Vorurteilen Halt machen wollen. Nach dieser Richtung könnte ich ja vieles erzählen. Ich will nur ein Faktum anführen:
Im Beginne der neunziger Jahre, da traten eine Anzahl von Menschen zusammen in den verschiedensten Städten in Europa und machten wiederum einmal etwas Amerikanisches nach: nämlich die «Bewegung für ethische Kultur». Es war dazumal unter gewissen Intellektuellen alles darauf aus, «Gesellschaften für ethische Kultur» zu gründen. Die Leute haben sehr schöne Sachen vorgebracht, und wenn Sie heute noch die Aufsätze lesen, die dazumal von diesen Vertretern der Gesellschaften für ethische Kultur geschrieben worden sind, wenn Sie Sinn haben für - ja, butteriges Zeug, so werden Sie wahrscheinlich heute noch entzückt sein können von all den schönen, wunderschönen Idealen, in denen die Leute dazumal geschwelgt haben.
Und es war wahrhaftig keine angenehme Aufgabe, sich gegen dieses Schwelgen in den butterigen Idealen zu wenden. Ich schrieb aber dazumal in einer der ersten Nummern der Zeitschrift «Die Zukunft» einen Artikel gegen dieses ganze butterige Zeug von der «ethischen Kultur», schimpfte mordsmäßig über diese «ethische Kultur». Es war selbstverständlich eine schändliche Tat, denn wie könnte es nicht etwas Schändliches sein, wenn man sich gegen etwas so Gutes wendet, wenn die Leute daran gehen, die ganze Welt zu ethisieren, durchzumoralisieren!
Ich lebte dazumal in Weimar, kam aber einmal nach Berlin, sprach auch mit Herman Grimm; der sagte: Was wollen Sie denn eigentlich mit dieser «ethischen Kultur“? Gehen Sie doch hin zu den Leuten, Sie werden sehen: die in Berlin hier zusammenkommen, diese Ethiker sind lauter recht nette, liebe Leute. Man kann gegen sie gar nichts haben. Es sind Leute, die einem ganz sympathisch sein können, die einem ganz gut gefallen können. - Das war auch gar nicht zu leugnen, und für den damaligen Moment hatte selbstverständlich Herman Grimm ebenso recht wie ich. Äußerlich genommen hatte der eine ebenso recht für den Moment wie der andere; das eine ließ sich ebensogut beweisen wie das andere, und ich will gar nicht behaupten, dass rein logisch meine Gründe gegen die Ethiker besser waren als die Gründe, die die Ethiker vorgebracht haben.
Aber aus all diesem Butteridealismus ist ja die gegenwärtige Katastrophe hervorgegangen, und nur diejenigen Menschen hatten recht und sind durch die Tatsachen gerechtfertigt, die dazumal gesagt haben: Mit all eurem Schwelgen und Reden von irgend solchen Butteridealen, durch die ihr allgemeinen Frieden und dergleichen und allgemeine Moral unter die Menschen bringen wollt, erzeugt ihr nichts anderes als das, was ich dann das soziale Karzinom genannt habe, was endlich in diese katastrophale Gegenwart hineinführen musste.