Klamurke Hypsopsyllus

Herumschwirrende Gedankengespenster

Aus R. Steiner:
Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen

♦♦♦

[…]

Es ist eine gewisse Seelenverwirrung, die herrührt aus einer sehr bedeutsam wirkenden Oberflächlichkeit unserer Zeit.

[…]

Denken Sie, das ist in der Gegenwart in ernstesten Angelegenheiten möglich, dass die Leute über etwas reden, das überhaupt nicht existiert, weil sie nicht mehr verstehen in ihrer Oberflächlichkeit, was sie lesen. Das ist nur ein konkretes Beispiel für den Fall, der heute unzählige Male vorkommt, dass diejenigen Menschen, die schreiben und drucken lassen, nicht lesen können; dass die Leser, Tausende und aber Tausende, nichts bemerken davon, dass die Schreibenden und Druckenlassenden nicht lesen können und über Dinge reden, die nicht vorhanden sind.

Sehen Sie, das ist die Strafe für die Nichtanerkennung einer geistigen Welt, für die Nichtanerkennung desjenigen, was die Leute Gespenster nennen, dass sie selber Gespenster schaffen in ihrer Oberflächlichkeit. Wer heute gesunden Sinnes in die Welt blickt, der findet, wie gesagt, auf Schritt und Tritt die verheerendsten Folgen dieser furchtbaren Oberflächlichkeit, die sich ausgestaltet eben zu Gedankenverwirrung. Und das Traurigste ist eigentlich, dass, wenn man diese Dinge hervorhebt, sie bespricht, die Sache auf die gegenwärtigen Menschen gar keinen besonderen Eindruck macht, weil die Oberflächlichkeit, die Gedankenlosigkeit nun schon einmal leider zu einer allgemeinen Menschheitseigenschaft geworden ist.

Und es ist einfach furchtbar, wieviel in dem ganzen Leben unserer Gegenwart beruht auf den Folgen dieser Oberflächlichkeit. So muß man das Seelenleben unserer Zeit ansehen. Und man kann gerade solche Erscheinungen nicht ernst genug, nicht wichtig genug nehmen. Eigentlich müsste fast jeder in unserer Zeit, der den Versuch macht, sich durch die heute gangbaren Mittel von etwas zu unterrichten, gleichgültig ob ein anderer ihm etwas sagt, denn im Reden ist die gleiche Oberflächlichkeit heute vorhanden, oder ob er irgendetwas liest, sei es da oder dort, er müsste sich fortwährend von einem inneren kritischen Sinne leiten lassen und sich sagen: Du musst versuchen, die Dinge zu durchschauen, welche heute herumschwirren in der Welt, und welche dadurch, dass sie durch alle möglichen Kanäle in die Menschenseelen hineinkommen und in den Menschenseelen als Impulse wirken, das Leben ungeheuer verwirren, ungeheuer durcheinanderbringen.

Wie gesagt, ich bin von einem konkreten Beispiel ausgegangen, um Ihnen zu zeigen, wie leitende, führende Persönlichkeiten durch ihre Oberflächlichkeit dazu verführt werden, nicht nur von etwas zu reden, was gar nicht vorhanden ist, sondern seitenlange Auseinandersetzungen zu schreiben über etwas, was es gar nicht gibt, und wie solche Persönlichkeiten, die dazu berufen sind, in den Weltgeschicken mitzureden, vor Versammlungen solches Zeug vorbringen können, ohne dass die Hunderte von Abgeordneten, die da sind, um ihr Volk zu vertreten, etwas davon merken.

Diese Dinge müssen schon sehr ernst genommen werden. Und zu den bittersten Dingen der Gegenwart gehört dieses, dass gerade in den letzten viereinhalb Jahren die Menschen sich noch mehr abgewöhnt haben, genau und exakt auf dasjenige hinzusehen, was in der Wirklichkeit vorhanden ist.

Positivismus ist nicht unkritischer Sinn; Positivismus ist, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und nicht Phantastereien nachleben, die reine Gespenster schaffen statt Wirklichkeit. Das, was ich sage, ist sehr aktuell, denn es geht jeden einzelnen Menschen in jeder einzelnen Lebenslage an. Und jedem einzelnen Menschen in jeder einzelnen Lebenslage kann etwas von dieser Sorte in jedem Augenblick passieren.

[…]

♦♦♦

Nachbemerkung R. Zoller:

Aus dem 7. Vortrag des Zyklus „Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen“; GA 190
Bei Bedarf findet man dort näheres. In diesem wie auch in weiteren Vorträgen dieses Zyklus geht es um die gespensterschaffende Wirkung des schlampigen Umgangs mit der Sprache; ein Problem, welches – wie mir scheint – nach wie vor kaum bemerkt sein verheerendes Unwesen treibt; vielleicht sogar noch schlimmer als zu Steiners Zeiten.
Mir privat ist besagtes Problem seit Jahren in allgemeinen Umrissen bewusst; und durch solche Anregungen wird es mir noch griffiger. Außerdem scheint mir, dass wir hier einen der nebelbildenden Faktoren haben, der die Menschheit unbeirrt Richtung Abgrund führt.

So isses.

Raymond Zoller