Klamurke Hypsopsyllus

Einleitung

Eben. Da ist deutlich gesagt: was Steiner unter Anthroposophie versteht.

Wennauch sicher für manche nicht verständlich. Wen es nicht nach innerer Befreiung drängt, der mag getrost das, was „der innere Mensch, der Geistesmensch wissen kann“ verwechseln mit dem, was er dank Steiner-Lektüre und daraus intellektuell Zusammenkombiniertem „weiß“. Ist ja ein sehr verbreitetes Missverständnis.

Echte Geisteswissenschaft beginnt nun mal mit der Entwicklung elementarer Ehrlichkeit; Entwicklung differenzierter Unterscheidungsfähigkeit: was man bis zu welchem Grade versteht, und was man nicht versteht. Wo man intellektuell konstruiert, und wo man lebt.

Ich erinnere mich, vor sehr vielen Jahren, noch bevor ich auf Steiner stieß: Da fiel mir bei mir auf, daß ich häufig über Dinge rede, die ich nicht verstehe; rein um des Redens oder des Rechthabens willen. Und ich verstand, daß ich mir das abgewöhnen muß, weil es mich innerlich irgendwie bremst und mich gegenüber meiner Umgebung abschottet. Bemühte mich auch, es mir abzugewöhnen. Und dann fiel mir das Buch von R. Steiner „Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten?“ in die Hände. Glaub nicht, daß ich damals schon irgendwelche „Erkenntnis höherer Welten“ anstrebte; las einfach darin herum; und musste zu meinem Erstaunen feststellen, daß Steiner hier ein von mir bereits ansatzweise als notwendig erkanntes Bemühen um innere Disziplinierung in systematischer Ausarbeitung sachlich darstellt. – Das war einer der ersten Hinweise, die mir zeigten: daß es sich lohnt, sich mit diesem Steiner auseinanderzusetzen.

Aber eben diese unverzichtbare elementare Ehrlichkeit wird bei zahllosen Steiner-Jüngern nicht entwickelt.

Wer private Sensationslust, eitles Geltungsbedürfnis, elementare Redelust, Bedürfnis, „dazu zu gehören“ nicht unterscheiden kann von realem Erleben des „Geistesmenschen“ – ja nun, mit dem kann man sich, wenn es einen zur Klarheit drängt, halt nicht verständigen.

Es geht ja nicht darum, daß man irgendwelche „grandiose“ Geisterlebnisse hat. Zunächst geht es mal darum, daß man elementare Ehrlichkeit und Unterscheidungsfähigkeit entwickelt. Daß man ahnendes Tasten schweigend weiterentwickelt, bis es reif ist, in Worte gefasst zu werden. Und auch dann abspüren kann, wann und gegenüber wem solche Worte angebracht sind.

Auf der Ebene elementarer Ehrlichkeit, ehrlichen Strebens ist auch Verständigung möglich. Während alles andere nur zu menschlich-allzumenschlicher Vereinsmeierei und Vereinsstreiterei führt.

In dem Maße, wie ich das durchschaute, schaffte ich es auch, nach und nach eigene Verirrungen zu erkennen und zu überwinden. Man ist ja nicht perfekt; wichtig ist nur, daß man versteht, was man warum will, warum man dies und jenes so sieht, wie man es halt sieht oder zu sehen glaubt. Warum es einen drängt, über dieses oder jenes Worte zu machen. – Und gleichzeitig legte ich zunehmend Wert darauf: nicht als Anthroposoph betrachtet zu werden; und immer deutlicher wurde mir, wie weit das, was Steiner seinerzeit als „Anthroposophie“ bezeichnete, sich von dem entfernt hat, was ursprünglich gemeint war.

Ich mach niemandem einen Vorwurf; hatte ja selbst genug Gelegenheit, die Abwege auszukosten. Verkomplizierend ist die traurige Tatsache, daß die Abwege zur Norm wurden und daß unter dem Etikett „Anthroposophie“ eine vereinsmäßig organisierte dogmenorientierte Sekte mit dogmatisch verhärteter Leitung sich breitmacht.

Erinnere mich an eine Problembesprechung Anfang der achtziger Jahre mit dem damaligen Leiter der anthroposophischen Jugendsektion Jörgen Smit. Auch ich war dabei, als schweigender Teilnehmer. Erinnere mich, wie sehr ich die Art, in der dieses hehre Vorstandsmitglied die „Problemlösung“ betrieb, als plumpe Demagogie empfand; und wie mir dämmerte: daß ich mich in Zusammenhängen, in denen an „höchster Stelle“ solche Demagogie betrieben wird, nicht heimisch fühlen könnte.

Damals verstand ich noch sehr wenig. Doch das verstand ich.

Ein weiteres Erlebnis fällt mir ein, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Da hatte ich bereits, für mich, dies und jenes von Steiner gelesen (Hauptsächlich in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten; und, scheint’s, auch ein wenig in der „Erkenntnistheorie der Goethe’schen Weltanschauung“). Ich besuchte Freunde in der Schweiz; und es ergab sich, daß die grad für diese Tage einen Besuch im Dornacher Goetheanum geplant hatten. Ich schloss mich an.

Das Goetheanum beeindruckte mich; und als Folge der vorangegangenen Steiner-Lektüre und des Eindrucks durch den Goetheanum-Bau kaufte ich mir dann in der Goetheanum-Buchhandlung zwei Bücher. Eins von Lindenberg: „Waldorfschulen - angstfrei lernen, selbstbewusst handeln“ und eins von Locher-Ernst „Mathematik als Vorschule zur Geist-Erkenntnis“. Das Lindenberg-Buch, weil mir bewusst war: daß ich keinerlei rechte Erziehung genossen hab, weder im Elternhaus noch in der Schule; daß Elternhaus wie Schule mich eigentlich nur vermurxt haben; und daß ich mich aus dieser Vermurxung in eigener Regie nun nach und nach herauswurschteln muß. Aufgrund dieser Erfahrung hatte ich Zweifel: Ob sachgemäße Erziehung überhaupt möglich ist? Und da war ich neugierig, was dieser offenbar mit Steiner zusammenhängende Lindenberg dazu sagt. – Locher-Ernst, weil ich eine unbestimmte Ahnung hatte: daß in der Mathematik sehr viel mehr drinsteckt, als ich in der Schule gelernt habe. Locher-Ernst wurde mir im Weiteren dann tatsächlich zu einer merklichen Hilfe; unter anderem, ganz elementar, bei der Unterscheidung zwischen lebendigem Denken und mechanischem Benutzen angelernter Formeln in weitestem Sinn.

Jener Goetheanum-Besuch erweckte in mir den Gedanken: mich verstärkt auf diese „Anthroposophie“ einzulassen. Ich hielt mich dann noch eine Weile in der Schweiz auf. Da saß ich denn eines sonnigen Tages, in Gedanken versunken, an einem hochgelegenen Bergeshang. Dachte darüber nach, wie ich das mit dieser Anthroposophie denn nun weiter halten soll. Mich irritierte, daß die Sache, eben, einen Namen hat: Anthroposophie. Das deutet auf Ideologie. Aber ich wollte keine Ideologie. Ich wollte frei verstehen.

Aus meinen Gedanken riss mich ein sich näherndes Segelflugzeug. Kam näher und näher und zog dann links an meinem Bergeshang vorbei. Ich vermutete, daß es irgendwo gelandet ist. Stand auf, sah mich um. Nix zu sehen. Und dann erblickte ich es: sich in engen Kreisen höher und höher schraubend. Hatte wohl einen Bereich mit Aufwind gefunden. Höher und höher schraubte es sich; und schließlich verließ es seine Spirale und flog geradeaus weiter.

Das Segelflugzeug brachte ich spontan mit meinen Gedanken bezüglich Anthroposophie in Verbindung. Und beschloss: Ich benutz diese „Anthroposophie“, was auch immer es sein mag, als Aufwind; und dann sehen wir, wie das weitergeht.

Und so geschah es.

Inzwischen verstehe ich: das, was Steiner mit dem Wort „Anthroposophie“ verband, war mehr oder weniger das, was ich suchte.

Daß das dann zu einer Ideologie verhärtete, ist schlecht. Aber auch durch die als „Anthroposophie“ bezeichnete Ideologie wurde einiges Sinnvolle geleistet; unter anderem: daß man sich die Schriften von jenem Steiner besorgen kann; daß man daraus herausholen kann, was einen weiterbringt. Unabhängig von der Art, wie man sich zu den anthroposophischen Zusammenhängen verhält. Es hat Entwicklungen – persönliche, gemeinschaftliche – gegeben, die es sonst nicht gegeben hätte; vielleicht wäre alles noch viel schlimmer, als es jetzt ist.

Wie dem auch sei: das, was ich vorfand, nutzte ich als Aufwind; und irgendwann verließ ich dann die Spirale. Und sicher gibt es viele, denen das ähnlich ging und geht.

Anthroposoph bin ich nicht. Etiketten stören nur und lenken ab von der Wirklichkeit; besonders in unseren etikettengläubigen Zeiten.

Zwischenfliege

Nicht ganz so ausgeprägt, aber doch verwandt hatte ich ein ähnliches Problem mit meiner Schreiberei.

Das Geschreibe ist für mich untrennbar mit meiner Entwicklung, mit meinem Schicksal verbunden. Das begann mit schriftlichen Selbstgesprächen, mit deren Hilfe ich mich aus meiner Vermurxung herauswurschtelte; und abgesehen von allem anderem entwickelte ich dadurch auch ein Gespür für Redlichkeit, für den Bezug zwischen Sprache und Inhalt. Nach erfolgreicher Nachdichtung einiger russischer Gedichte für eine literarische Veranstaltung in München und den darauf folgenden Aufführungen meiner eigenen musikbegleiteten Texte in deutschen und schweizerischen Kleintheatern empfand ich es eine Weile als schmeichelhaft, als „Schriftsteller“ betrachtet zu werden.

Inzwischen lege ich größten Wert darauf, kein Schriftsteller zu sein. Ich veröffentlichte später auf verschiedenen literarischen Internet-Plattformen; und noch später bat ich, meine Texte wieder zu entfernen. Nämlich merkte ich, daß sehr viele es einfach als ehrenvoll empfanden, „Schriftsteller“ zu sein. Bei mir selbst merkte ich, daß ich, wenn ich mich als „Schriftsteller“ produzieren will, nicht viel zustandebringe.

Auch hier: Problem elementarer Ehrlichkeit. Man schreibt, wenn man was zu sagen hat, wenn etwas zur Entwicklung drängt. Oder einfach: als Hilfe, sich zu konzentrieren, oder um sich abzureagieren. Wenn man schreibt, um in menschlich-allzumenschlicher Eitelkeit dem Etikett „Schriftsteller“ zu genügen, kommt nicht viel zustande

Ich mach da nicht mit.

Doch auch hier: abgesehen von Erwähntem war es eine interessante Zeit, und ich lernte interessante Leute kennen; darunter auch solche, die durchaus schreiben können. Die Etikettengläubigkeit mitsamt Eitelkeit bremst und verfälscht; man muß halt sehen, daß man – bei sich und bei anderen – das darunter wogende Echte entdeckt.

Weder Anthroposoph bin ich noch Schriftsteller.

Zwischenfliege

Ich denke, daß es keinerlei Sinn hat, mit Menschen, welche die Bestrebungen ihres privaten „Ego“ mit Geistesmensch verwechseln, herumzustreiten. – Man schlägt sich durch in freier Wildbahn, ohne Etiketten und ohne Vereinsmeierei, so gut es geht. Und wenn man da, in aller Freiheit und ohne Tendenz zur Vereinsmeierei anderen begegnet, die sich in freier Wildbahn durchschlagen – umso besser.

Ich erinnerte mich, wie ich vor Kurzem aus dem PDF „Skizze meiner weltanschaulichen Entwicklung“ das Kapitel „Aus geistigen Zeiten“ entfernte. Da geht es um Auseinandersetzung mit Leuten aus meinem anthroposophischen Umfeld; solches gehört für mich der Vergangenheit an.

Man verständigt sich in den Bereichen, wo Verständigung möglich ist. Und wo Verständigung nicht möglich ist – lässt man sich gegenseitig in Ruhe.

Bei der gemeinsam mit Norbert Reininger geschaffenen online-Ecke „Hypsopsyllus“ geht es um einen Grenzbereich, wo es, in Maßen, um Auseinandersetzung geht mit einer zur Dogmatik erstarrten „Anthroposophie“

Raymond Zoller