Die heutigen Denker glauben, sie handeln - oder denken vielmehr - vorurteilslos, bloß wissenschaftlich forschend, wenn sie behaupten, der Mensch bestünde aus Leib und Seele. […] Und nur schüchtern wagt sich der Versuch der Wahrheit hervor, den Menschen zu gliedern in Leib, Seele und Geist. Die Philosophen, die heute glauben, vorurteilslos den Menschen in Leib und Seele zu gliedern, die wissen eben nicht, dass ihre Gliederung nur das Ergebnis eines historischen Vorganges ist, der seinen Ausgangspunkt genommen hat vom achten allgemeinen Konzil von Konstantinopel, wo die katholische Kirche den Geist abgeschafft hat, indem es zum Dogma erhoben worden ist, dass fortan der richtig gläubige Christ nur zu denken habe, der Mensch bestünde aus Leib und Seele, und die Seele habe auch einige geistige Eigenschaften. – Das war Kirchengebot. Das lehren heute noch die Philosophen und wissen nicht, dass sie bloß dem Kirchengebote folgen: sie glauben vorurteilslose Wissenschaft zu treiben. So steht es tatsächlich heute um manches, was man «vorurteilslose Wissenschaft» nennt.
So ähnlich ist es auch mit der Naturnotwendigkeit. Diese ganze Entwickelung vom vierten Jahrhundert bis ins sechzehnte Jahrhundert, die kristallisierte immer mehr einen ganz besonderen Gottesbegriff heraus. Wenn man auf die Feinheiten der geistigen Entwickelung dieser Jahrhunderte eingeht, so kommt man darauf, dass immer mehr und mehr ein ganz bestimmter Gottesbegriff aus dem menschlichen Denken herausgearbeitet wurde, der Gottesbegriff, der eigentlich gipfelt in dem Diktum : Gott, der Allmächtige. Es wissen die wenigsten Menschen, dass es zum Beispiel für den Menschen vor dem vierten nachchristlichen Jahrhundert keinen rechten Sinn gehabt hätte, von Gott dem Allmächtigen zu sprechen. Wir treiben keine Katechismus-Wahrheiten; da steht natürlich drinnen : Gott ist allmächtig, allweise und allgütig und so weiter. – Das alles sind Dinge, die mit den Wirklichkeiten nichts zu tun haben. Vor dem vierten Jahrhundert würde niemand, der verständig war in diesen Dingen, der mit diesen Dingen wirklich mitgegangen ist, daran gedacht haben, die Allmacht als eine Grundeigenschaft des göttlichen Wesens zu betrachten, sondern da war noch die Nachwirkung der griechischen Begriffe. Und wenn man an das göttliche Wesen gedacht hat, so würde man in erster Linie nicht gesagt haben: Gott, der Allmächtige, sondern : Gott, der Allweise.
Die Weisheit war dasjenige, was man zunächst als die Grundeigenschaft dem göttlichen Wesen beigelegt hat. Und der Begriff der Allmächtigkeit, er ist erst vom vierten Jahrhundert an allmählich eingedrungen in die Idee von dem göttlichen Wesen.
Das entwickelt sich weiter. Der Persönlichkeitsbegriff wird fallen gelassen, und übertragen wird das Prädikat auf die bloße, immer mehr und mehr sogar mechanisch vorgestellte Naturordnung. Und der Begriff der neueren Naturnotwendigkeit, dieser Allmacht der Natur, ist nichts anderes als das Ergebnis der Entwickelung des Gottesbegriffs vom vierten Jahrhundert bis ins sechzehnte Jahrhundert. Nur dass abgeworfen wurden die Persönlichkeitseigenschaften, und dass herübergenommen wurde in die Struktur des Naturdenkens dasjenige, was dazumal für den Gottesbegriff genommen worden ist.
Die echten Naturwissenschaftler von heute würden sich natürlich kräftig wehren, wenn man ihnen so etwas sagt. Geradeso wie manche Philosophen glauben, vorurteilslos über den Menschen zu denken, indem sie ihn nur aus Leib und Seele bestehen lassen, während sie in Wahrheit nur befolgen das achte allgemeine ökumenische Konzil von Konstantinopel von 869, gerade-so wie diese Philosophen abhängig sind von einer historischen Strömung, so sind sie alle - die Haeckelianer, die Darwinisten, alle, alle bis zu den Physikern mit ihrer Naturordnung - nichts anderes als Abhängige derjenigen theologischen Richtung, die sich ausgebildet hat in der Zeit von Augustinus bis Calvin.
Diese Dinge müssen durchschaut werden. Denn das ist das Eigentümliche einer jeden Evolutionsströmung, dass sie eine gewisse Evolution in sich schließt, aber auch eine Involution oder Devolution. Und während sich entwickelte der Begriff « Gott der Allmächtige», war die Unterströmung in den unterbewussten Sphären des menschlichen Seelenlebens vorhanden, die dann die tonangebende Oberströmung wurde : die Naturnotwendigkeit. Und seit dem sechzehnten Jahrhundert ist wiederum eine neuerliche Unterströmung da, die gerade in unserer Zeit sich vorbereitet, Oberströmung zu werden.