Die Klamurke Sprachliches

Fehlerzahl

„Rechtschreibreform verdoppelt die Fehlerzahl in der Süddeutschen Zeitung - Verfünffachung der Fehlerquote in den reformierten Bereichen - Das "Kinder"-Argument der Zeitungen damit widerlegt“

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Also lautet die Schlagzeile eines Rundschreibens des VRS - Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. - Initiative gegen die Rechtschreibreform - vom 12. September 2000.

Bei der im Sinne der Rechtschreibereform rechtschreibenden Süddeutschen Zeitung verdoppelt sich also die Fehlerzahl, und in anderen reformtreuen Bereichen verfünffacht sie sich gar.

Verwirrend, das Ganze. Was die Verbreiter dieser Nachricht wohl verbinden mit dem Worte „Fehler“? Schwer zu sagen...

Was ist, im Allgemeinen, ein Fehler in Bezug auf Sprache und Rechtschreibung? – Hier muß man vorausschicken, daß die Sprache ihre eigenen, objektiven Gesetze hat; was man leicht mal übersieht; und deshalb verfällt man dem Mißverständnis, die Ergüsse irgendwelcher nicht sonderlich mit der Sprache vertrauter Menschen, die in staatlichem Auftrag versuchen, die Sprachnormen dem sinkenden intellektuellen Niveau anzupassen, mit besagten Gesetzen zu verwechseln. – Im technischen Bereich etwa scheint die Gepflogenheit, objektive Gesetzmäßigkeiten mit willkürlich aufgestellten Normen zu verwechseln, etwas weniger verbreitet. Wenn ich, sagen wir, eine Brücke baue und nix von Statik verstehe, so merkt man mein Nichtbeachten der Naturgesetze zumindest an dem Faktum, daß die Brücke zusammenkracht; und alle etwaige Bemühungen noch so mächtiger staatlicher Stellen, die doch gar sehr schwierige Mathematik, Statik, Physik durch Vereinfachungsmaßnahmen zu demokratisieren, könnten hieran nichts ändern: Die Brücke kracht zusammen, und basta. Und kaum jemandem würde es einfallen (zumindest hoffe ich; aber ich kann mich natürlich irren), die Gründe für den Einsturz der Brücke in etwaigen Abweichungen von künstlich aufgestellten Normen und nicht in der Mißachtung objektiver Natur-und Denkgesetze zu suchen. - Bei der Sprache gibt es keine solcherart physisch wahrnehmbare Konsequenzen (abgesehen von Übelkeit und Brechreiz bei verschiedenen überempfindlichen Zeitgenossen); und deshalb merkt man nix.

Daß die Reformer, die sich in staatlichem Auftrag der staatlich aufzuzwingenden demokratisierenden Vereinfachung der deutschen Sprache widmen, über keinerlei Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten selbiger verfügen, ist mir aufgrund verschiedener zufälliger Stichproben aus ihrem Reformwerk deutlich. Vieles deutet darauf hin, daß sie zudem nicht in der Lage waren oder sind, ihr Werk zu einem in sich widerspruchlosen System abzurunden (unabhängig davon, wie sehr oder wie wenig dieses System mit der deutschen Sprache zusammenpaßt; einfach: als System an sich). - Ich weiß nicht, ob das so ist; ich bin dem nicht nachgegangen, weil es mich nicht interessiert; doch vieles deutet darauf hin.

Wenn man nun eine Abweichung von diesem willkürlich aufgestellten systemähnlichen Gebilde, von dieser Normensammlung, als "Fehler" bezeichnet und sich um ein in diesem Sinne fehlerfreies Dasein bemüht, ergeben sich gewisse Probleme. Nämlich muß man, um solcherart als „Fehler“ definierte Erscheinungen zu vermeiden, von allem, was an Sprachgefühl und Verwandtem in einem übrig ist, absehen, und sich voll auf die willkürlichen Ergüsse dieser Persönlichkeiten einlassen; und da nicht einmal ein logisch abgerundetes System vorliegt, kommt man letztendlich in eine groteske persönliche Abhängigkeit von den Launen irgendwelcher Leute, die man nicht einmal kennt. (Im Grunde ein höchstlich interessantes literarisches Thema, welches der Ausarbeitung harrt; und eben diese unverhohlene Absurdität macht mich in gewisser Hinsicht zu einem Anhänger der Rechtschreibereform...)

Kommen wir nun zu diesem Rundschreiben bezüglich doppelter Fehlerzahl in der Süddeutschen Zeitung. Die Verteiler dieses Rundschreibens haben, im Gegensatz zu mir, kein Verständnis für die Absurditäten und Komismen des Lebens und bekämpfen die Rechtschreibereform, das heißt dieses willkürlich aufgestellte systemähnliche Normengebilde. - Daß sie gegen das Verbindlichmachen dieses Normengebildes ankämpfen, bedeutet wohl implizite, daß sie es als nicht maßgeblich für die Sprache betrachten und daß somit, ihrem Verständnis nach, ein Fehler in Bezug auf dieses Gebilde nicht per se ein Fehler in Bezug auf die Sprache selbst ist. Aus welchem Grunde die im Weiteren aufgedröselte zusätzliche Absurdität umso interessanter ist.

Wir haben hier denn zwei untereinander grundverschiedene Begrifflichkeiten, die beide mit dem Wort "Fehler" verbunden werden: Einmal eine Versündigung gegen die Sprache selbst, und einmal eine Nichtübereinstimmung mit dem willkürlichen Normengebilde.

Bei der Fehlerzahl, die sich verdoppelt hat, liegt der Begriff der Abweichung von dem willkürlichen Normengebilde zugrunde. Bei der Fehlerzahl hingegen, gegenüber welcher sie sich verdoppelt hat, haben wir die Versündigung gegen die Sprache[1] selbst. - Es ist, wie wenn man - extrem ausgedrückt - von einer ver-x-fachung der täglich gebackenen Brötchen im Verhältnis zu den täglich klemmenden Türschlössern sprechen würde. Man kann davon sprechen; natürlich; aber was soll’s...



1) Wobei ich mir natürlich bewußt bin, daß auch diese Fehlerzahl durch die Abweichung von fixierten Normen bestimmt wird. Doch sind die Vorreform-Normen, verschiedenen Abstrichen zum Trotz, weitaus näher an der Sprache selbst; so nah, daß man sie, cum grano salis, in Vorliegendem Fall mit den objektiven Sprachgesetzen gleichsetzen kann. – Betrachtet man hingegen als Fehler eine Versündigung gegen das innere Gesetz der Sprache, so kann man bei den normgebenden Reformern so manche solche entdecken. Doch von dem „eingeborenen“ Recht und Gesetz ist ja eh bekanntlich nie die Frage (nachträglich eingefügte Fußnote)

Raymond Zoller